Ukraine:Absolute Mehrheit für Selenskij

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Der Präsident kann wohl ohne Koalitionspartner regieren. Er kündigt an, einen Experten als Premier berufen zu wollen.

Von Frank Nienhuysen/dpa, Kiew/München

Auf dem Sprung in die große Politik: Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk. (Foto: Genya Savilov/AFP)

Bei der Parlamentswahl in der Ukraine hat die Partei des neuen Präsidenten Wolodimir Selenskij nach eigenen Angaben die absolute Mehrheit und damit einen historischen Sieg erreicht. Nach Auszählung von mehr als 70 Prozent der Stimmen am Montagabend lag die Partei Diener des Volkes bei 42,7 Prozent der Stimmen und so mit großem Abstand vor der zweitplatzierten russlandfreundlichen Oppositionsplattform, die 13 Prozent erhielt. Zusätzlich gewann Diener des Volkes überraschend viele Direktmandate in den Wahlkreisen. Nach eigenen Angaben kann sie mit etwa 250 der 424 Abgeordnetensitze rechnen. Sie bräuchte demnach keinen Koalitionspartner.

Es wäre das erste Mal seit der Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepublik, dass eine Partei die absolute Mehrheit der Sitze erhält. Die Partei Diener des Volkes ist nach einer Comedy-Serie im Fernsehen benannt. Dort hatte der Komiker Selenskij jahrelang einen Präsidenten gespielt, der gegen die korrupte Machtelite kämpft.

Die Partei Europäische Solidarität des abgewählten Präsidenten Petro Poroschenko kam bei der Wahl am Sonntag auf knapp neun Prozent, die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und ihre Vaterlandspartei erhielten acht Prozent. Ebenfalls ins Parlament zieht mit 6,4 Prozent die neue Partei Golos (Stimme), die als wahrscheinlicher Koalitionspartner für Diener des Volkes gilt, falls es für sie doch nicht zur absoluten Mehrheit reicht. Golos wurde erst vor zwei Monaten vom Rockmusiker Swjatoslaw Wakartschuk gegründet. Wakartschuk füllt mit seiner Band Okean Elzy in der Ukraine mühelos große Hallen und Plätze. Einige seiner Lieder gehörten 2004 zu den Hymnen der orangenen Revolution. Der Sänger war schon einmal Abgeordneter gewesen, verzichtete jedoch aus Enttäuschung über Machtkämpfe im Lager der Reformer kurz darauf auf sein Mandat. Wie Selenskij setzt Wakartschuk auf junge Politiker, die keinerlei Regierungs- oder Parlamentserfahrung haben. Der Ausgang der Parlamentswahl bedeutet also zu einem großen Anteil einen Generationenwechsel in der ukrainischen Politik.

Selenskij hatte nach seiner Wahl zum Präsidenten im Frühjahr die zunächst für Herbst geplante Parlamentsabstimmung vorziehen lassen, da sich das bisherige Abgeordnetenhaus mehrheitlich gegen seine Reformvorhaben gestellt hat. So will er unter anderem per Gesetz die Immunität von Abgeordneten beschränken. Unklar war am Montag noch, wer künftig als Ministerpräsident die Regierung führen soll. Selenskij hatte bei der Stimmabgabe am Sonntag gesagt, der Regierungschef solle ein "professioneller Wirtschaftsexperte" ohne Vergangenheit in einem Ministeramt sein.

Am Montag wiederholte Selenskij seine vorrangigen Ziele, den Krieg im Osten der Ukraine zu beenden, ukrainische Gefangene aus Russland freizubekommen und die Korruption zu besiegen.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sagte über die Abstimmung in der Ukraine, diese sei "ein Beispiel der Demokratie und Freiheit für die gesamte Region". Selenskij verfüge nun über ein starkes Mandat für seine ambitionierte Reformagenda, sagte sie in Berlin. "Wir erwarten, dass er diese Reformen jetzt entschlossen angeht, um die in ihn gesetzten Hoffnungen der Ukrainer zu erfüllen." In Kiew sagte der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Manuel Sarrazin: "Das Wahlergebnis in der Ukraine ist nichts anderes als eine kleine Revolution. Die Menschen strafen das bisherige als korrupt und unglaubwürdig angesehene politische Personal ab und geben dem neu gewählten Präsidenten Selenskij ein starkes Mandat im Parlament." So scheiterte etwa die Partei des Regierungschefs Wladimir Groisman samt vier Ministern an der Fünf-Prozent-Hürde. Nur fünf von 22 angetretenen Parteien schaffen diese Hürde.

Erste Reaktionen aus dem Nachbarland Russland waren verhalten. Selenskij müsse noch politische Reife zeigen, schrieb der Leiter des außenpolitischen Ausschusses im Föderationsrat, Konstantin Kossatschow, auf Facebook. "Die politische Kindheit und Jugend ist für Präsident Selenskij somit beendet. Jetzt kommt die Zeit der echten Verantwortung." Der Außenpolitiker Leonid Kalaschnikow wertete den Erfolg der prorussischen Oppositionsplattform als positives Zeichen, dass sie sich für bessere Beziehungen zu Moskau einsetzen werde.

© SZ vom 23.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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