Turin:"Bomba, bomba!"

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Beim Public Viewing in Turin führte ein Knallkörper auf einem der schönsten Plätze der Stadt zur Panik mit Hunderten Verletzten.

Von Oliver Meiler

Zurück blieb ein Berg Sommerschuhe und Rucksäcke, verloren auf der Flucht. Auf der Piazza San Carlo in Turin, dem "Salotto" der vornehmen Stadt, dem Wohnzimmer, haben am Samstagabend 30 000 Menschen gezeigt, wie tief sich die Angst vor dem Terror schon in die Köpfe gefressen hat. Der Terror vor dem Terror. Es braucht dafür keine wirkliche Bombe, keinen rasenden Camion. Es war, schreibt eine italienische Zeitung, als habe jemand ein Streichholz in ein Becken Benzin geworfen. Das Benzin in diesem Bild ist die Panik. Genährt von den Bildern aus Paris, Nizza, Berlin, London, Manchester, wieder London. Und jederzeit entflammbar.

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Es hätte ein Fußballfest werden sollen - Public Viewing, wie man es kennt. Im walisischen Cardiff maßen sich Real Madrid und Juventus Turin um die Krone des europäischen Fußballs, die Trophäe der Champions League. In Turin war es sommerlich warm. Die Piazza San Carlo dient immer als Rahmen, wenn Großes zu begehen ist, große Freude und großer Protest. Es ist einer der schönsten Plätze in der Stadt, ein perfekt vermessenes Rechteck umgeben von Säulengängen, den "Portici" mit den alten Kaffeebars. An einem Ende der Piazza stellte die Gemeindeverwaltung einen Großbildschirm auf, einen einzigen. Familien mit kleinen Kindern waren da, Fans, Feierfreudige. Und Ultras mit Stadionverbot, etwa hundert von ihnen. Auf die Piazza darf jeder. Sie standen unter dem Bildschirm.

"Wir haben das Attentat selber gemacht", titelt die Zeitung "Libero"

Um 22.07 Uhr, kurz nach Reals Tor zum 3:1, explodierte in ihrer Zone ein Knallkörper. Vielleicht auch zwei, da gehen die Augenzeugenberichte auseinander. Dann soll jemand gerufen haben: "Bomba, bomba!" Und alle begannen zu rennen. Im Netz gibt es eindrückliche Videos des Moments, des Auftakts zur Massenpanik. Niemand weiß Bescheid, alle rennen. Zwanzig Minuten Chaos, mit diesen Bildern vom Terror im Kopf. 1527 Menschen verletzen sich im Gedränge, acht von ihnen schwer, drei mit "Codice rosso", Lebensgefahr. Die meisten trugen Schnittwunden davon. Der Boden war ein Teppich von Glasscherben. Wie durch ein Wunder ist nicht viel mehr passiert.

Die Piazza San Carlo nach einer Massepanik in Turin. (Foto: dpa)

"Wir haben unser Attentat selber gemacht", titelte die rechte Zeitung Libero danach mit einer bitteren Note. Von allen großen europäischen Ländern ist Italien das einzige, das in den vergangenen Jahren keinen Terroranschlag erleiden musste. Warum das so ist, kann niemand abschließend erklären. Thesen aber gibt es viele: Sie handeln von der angeblichen Brillanz der italienischen Geheimdienste, von effektiveren Fahndungsmethoden, von der sozialen Kontrolle in den Städten, von gelungener Integration der Zugewanderten, von der geopolitischen Irrelevanz des Landes. Vielleicht ist auch Zufall ein Faktor. Und nun das: Terror ohne Terror.

Die Turiner Staatsanwaltschaft ermittelt. Bisher gegen unbekannt, ohne Indizien, ohne Verdächtige. Zwei Fans, die man zunächst für die möglichen Alarmstifter hielt, wurden bald wieder freigelassen. Es ist nicht einmal sicher, ob jemand "Bomba, bomba!" gerufen hat. Sicher ist nur, dass der Großanlass schlecht organisiert war, dass Bier in Glasflaschen verkauft wurde, dass kaum Polizei vor Ort war für die Kontrolle der Zugänge, dass es keinen Evakuierungsplan gab, keine Fluchtwege: Der "Salotto" war ein Gefängnis, ausgerechnet, in diesen Zeiten des Terrors und der Psychose.

© SZ vom 06.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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