Türkei und EU:Spezialbehandlung für einen Spezialfall

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Angeblich wird die Türkei in puncto EU-Beitritt seit mehr als 40 Jahren hingehalten. Das stimmt mitnichten. Seit wann es konkrete Beitrittsbestrebungen gibt und warum noch nicht mehr daraus geworden ist.

Von Bernd Oswald

Als Geburtsjahr der türkischen Europa-Bestrebungen gilt gemeinhin das Jahr 1963. Damals wurde ein Assoziationsabkommen zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei geschlossen. Darin wurden aber ausschließlich wirtschaftliche Fragen geregelt, wie etwa die ständige und ausgeglichene Stärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und die Einführung einer Zollunion in drei Stufen. Die EG oder die EU gab es zu dieser Zeit noch gar nicht. Für die EWG wurde der Türkei eine Mitgliedschaft nach 17 Jahren in Aussicht gestellt.

Nach Ablauf dieses Zeitraums stand dieses Angebot nicht mehr zur Debatte: Am 12. September 1980 hatte General Kenan Evren sich - wenn auch unblutig - an die Macht geputscht, Gewerkschaften und Parteien verboten und das Kriegsrecht verhängt. Diese Vorkommnisse standen in krassem Widerspruch zu den rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen der inzwischen gegründeten EG, die ihre Beziehungen zur Türkei erst einmal einfror.

Beitrittsantrag erst 1987

Verstimmt waren die westeuropäischen Staaten außerdem bereits seit 1974, als die türkische Armee die nördliche Hälfte Zyperns besetzt hatte.

1984 nimmt die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihren bewaffneten Kampf gegen die Unterdrückung der Kurden auf. Die türkische Zentralregierung antwortet mit einem mitlitärischen Einmarsch, in dem kurdische Dörfer geräumt und entvölkert werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die EG-Kommission 1989 den zwei Jahre zuvor eingereichten Beitrittsantrag der Türkei ablehnte. Erst seit 1987 kann man also von konkreten EG-Beitrittsbestrebungen der Türkei sprechen.

Zum 1.1. 1996 tritt die Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei in Kraft. Sie gab einen wichtigen Impuls für die Rechtsangleichung der Türkei an das Gemeinschaftsrecht. Die Türkei übernahm zuvor wichtige Teile des Besitzstandes der Gemeinschaft, vor allem in den Bereichen Zoll, Handelspolitik, Wettbewerb und Schutz des geistigen, gewerblichen und kommerziellen Eigentums. In einem zentralen Bereich ist die Türkei also bereits mit der EU verwoben.

Beitrittskandidat der Sonderkategorie

Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates die Türkei 1996 wegen "schwerer und grausamer Folter" und 1997 wegen eines Überfalls auf ein kurdisches Dorf zu Schadenersatz für zerstörte Häuser verurteilte, kam der EU-Gipfel von Luxemburg im Dezember 1997 zu dem Schluss, dass die Türkei für einen Beitritt zur Europäischen Union in Frage kommt. Von Beitrittsverhandlungen ist allerdings nicht die Rede.

Das ändert sich zwei Jahre später: Nachdem der Kurden-Krieg im Sommer 1999 beendet wird, gewährt der EU-Gipfel von Helsinki der Türkei im Dezember 1999 den Status eines Beitrittskandidaten, ohne aber Verhandlungen aufzunehmen. Das ist ein Novum in der EU-Geschichte.

Vor Aufnahme offizieller Beitrittsverhandlungen fordert die EU von der Türkei einen "politischen Dialog" über Menschenrechtsfragen, die Beilegung von Grenzstreitigkeiten mit Griechenland und eine konstruktive Haltung der Türkei im Zypernkonflikt.

Die schrittweise Annäherung zwischen EU und Türkei setzt sich im März 2001 fort, als der Europäische Rat eine Beitrittspartnerschaft mit der Türkei billigt. Sie sieht vor, die verschiedenen Formen der EU-Heranführungshilfen zusammenfassen, die Türkei mit den Verfahren und den Politiken der EU vertraut machen und ihr gleichzeitig die Möglichkeit einräumen, sich an Programmen der Gemeinschaft zu beteiligen. Im Gegenzug kündigt die Regierung Ecevit ein nationales Programm zur Umsetzung des EU-Rechts in der Türkei an.

Nach diesen positiven Signalen seitens der Europäischen Union gab es im Dezember 2002 einen einen herben Rückschlag für die türkischen Beitrittsbestrebungen: Obwohl der Europäische Rat von Kopenhagen die Reformfortschritte lobte und offiziell keine Kritik an den rechtsstaatlichen Zuständen äußerte, vertröstete er die Türkei auf 2004.

Islamische Regierung beschleunigt Reformkurs

Erst dann sollte der Europäische Rat auf Basis eines Berichts der EU-Kommission über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheiden. In Ankara hatte man auf den sofortigen Beginn der Beitrittsverhandlungen gesetzt, nachdem im Oktober die Todesstrafe gegen Ex-PKK-Führer Abdullah Öcalan in lebenslange Haft umgewandelt worden war. Einen Monat später wurde der Ausnahmezustand in den 13 kurdischen Siedlungsprovinzen nach 15 Jahren aufgehoben.

Vermutlich wollten die europäischen Staats- und Regierungschefs abwarten, ob die unmittelbar zuvor gewählte islamisch-konservative Regierung unter Ministerpräsident Gül und Recep Tayyip Erdogan, dem Chef der neuen Regierungspartei AKP, den Reformkurs fortsetzen würde. Das Kalkül: Wenn die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in baldige Aussicht gestellt wird, bleibt ein Anreiz, den Weg zu europäischen Standards in puncto Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fortzusetzen.

In der Tat beschleunigte Reccep Tayip Erdogan nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten im März 2003 den Reformkurs. In seiner Amtszeit verabschiedete das AKP-dominierte Parlament den EU-Ambitionen förderliche Gesetze: So wurden z.B. der von Militärs dominierte Nationale Sicherheitsrat beschnitten, die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft, Parteien-Vebote erschwert und das Strafrecht reformiert.

Der Lohn: Am 6. Oktober 2004 empfahl die EU-Kommission die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. Vermutlich wird der Europäische Rat dieser Empfehlung im Dezember nachkommen. Allerdings werden die Verhandlungen "ergebnisoffen"geführt werden, müssen also nicht zwangsläufig zum Beitritt der Türkei führen. Schließlich gibt es nach wie vor Kritik an den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen: Gesetze sind eine Sache, ihre Umsetzung eine andere.

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