Türkei:EU überprüft die Menschenrechtslage

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Menschenrechts-Aktivisten werfen Ankara vor, dass in der Türkei "weiterhin systematisch gefoltert" werde. Nun lässt Erweiterungskommissar Verheugen einen Folterbericht mit 597 Beschwerden analysieren.

Von Christian Wernicke

Unter dem Eindruck jüngster Vorwürfe von Menschenrechts-Aktivisten, in der Türkei werde "weiterhin systematisch gefoltert", hat Brüssels Erweiterungskommissar Günter Verheugen eine "erneute und genaue Überprüfung" aller Informationen über die Menschenrechtslage in dem Land angeordnet.

Verheugen, der Anfang Oktober den 25 EU-Regierungen eine Empfehlung über die baldige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Regierung in Ankara vorlegen muss, bereist derzeit die Türkei. In Gesprächen vor allem mit Nicht-Regierungsorganisationen will er sich "dabei ein eigenes Bild über die wirkliche Lage im Land" machen.

"Die Folter geht weiter"

Anlass für Verheugens dringliche Anweisung an seine Dienststellen war ein Gespräch mit Menschenrechts-Gruppen in Ankara. Dabei hatte Yuvas Önen, der Vertreter der angesehenen türkischen "Stiftung für Menschenrechte" (Human Rights Foundation) erklärt: "Die Folter geht weiter, in allen Ecken der Türkei." Önen betonte ausdrücklich, dabei handele es sich um "systematische Folter - dies ist nicht das Fehlverhalten irgendwelcher Einzelpersonen".

Er überreichte Verheugen einen Bericht, der für die ersten acht Monate dieses Jahres 597 Beschwerden über Folter und Misshandlungen auflistet. Verheugen zeigte sich "überrascht". Dies sei "das erste Mal seit zwei Jahren", dass eine Organisation den Vorwurf systematischer Folter erhebe.

Der deutsche EU-Kommissar will nun vor allem klären, ob solche Übergriffe türkischer Sicherheitskräfte gezielt dem Machterhalt des Staates dienen. Offenbar bezweifelt er dies. Verheugen verwies auf die Urteile fast aller anderen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, die er in Ankara und in der südöstlichen Krisenregion Diyarbakir getroffen hatte.

Diese hatten einhellig "deutliche Fortschritte" im Verhalten der Behörden anerkannt und erklärt, gewaltsame Übergriffe von Staatsbeamten würden eher "aus Gewohnheit" und als Folge mangelnder Ausbildung denn aufgrund von Anweisungen höchster Stellen erfolgen. Sämtliche Vertreter forderten Brüssel auf, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Jahr 2005 zu beginnen.

Dies werde weitere Reformen und "nötige Fortschritte im Alltag unserer Bürger" beschleunigen. Auch Önen schloss sich diesem Urteil an. Verheugen erwiderte jedoch, falls sich der Vorwurf systematischer Folter bestätige, sei es geradezu überflüssig, dass die EU-Kommission noch die Einhaltung anderer Beitrittskriterien überprüfe.

Kommissar warnt offen vor Islamisierung Europas

Am 6. Oktober muss zunächst eine Mehrheit der 30 EU-Kommissare Verheugens Türkei-Bericht sowie dessen erwartete Empfehlung billigen, die Aufnahmeverhandlungen mit Ankara zu beginnen. Die endgültige Entscheidung würden dann die EU-Regierungen bei einem Gipfeltreffen Mitte Dezember fällen. Für Aufsehen in Brüssel sorgten Äußerungen des niederländischen Kommissars Frits Bolkestein, der offen vor einer Islamisierung Europas warnte.

Falls sich dieser Trend bestätige, sei "die Befreiung von Wien 1683 umsonst gewesen". Damals hatten österreichische, deutsche und polnische Soldaten den Vormarsch türkischer Truppen nach Westeuropa gestoppt. Bolkestein sagte weiter, "wer immer die Türkei hereinlässt, wird auch die Ukraine und Weißrussland akzeptieren müssen". Diese Länder seien europäischer als die Türkei. Ein Kommissionssprecher bestritt jedoch, Bolkestein habe sich gegen EU-Verhandlungen mit Ankara festgelegt.

Seine Skepsis gegenüber den türkischen EU-Ambitionen hatte kürzlich auch der österreichische Kommissar Franz Fischler verdeutlicht. In einem Brief an Verheugen mahnte er an, zuvor die Auswirkungen eines türkischen Beitritts auf die gesamte EU genau zu analysieren. Der Agrarkommissar warnte, die Aufnahme des großen Landes könne allein landwirtschaftliche Subventionen von zusätzlich zehn Milliarden Euro im Jahr erfordern.

© SZ vom 9.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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