Tschechien und Slowakei:Ein neuer Anlauf

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Die drei Jahrzehnte seit der Samtenen Revolution von 1989 haben den beiden Ländern Wohlstand gebracht. Die Politik aber ist durch Intrigen, Raffgier und Geringschätz­ung für die Demokratie belastet. Eine junge Generation will dies ändern - und bringt Hoffnung für ganz Mittelosteuro­pa.

Von Viktoria Großmann

Tschechien und die Slowakei haben es in 30 Jahren Freiheit zu Wohlstand gebracht. Die Luft ist heute besser, die Wälder sind grüner, die Städte bunt. Nur mit der Politik klappt es nicht so recht. In beiden Ländern wurden Politiker gewählt, die vor allem ihre persönliche Freiheit und ihren Vorteil im Blick haben. Sie erkaufen sich Zustimmung mit Sozialleistungen und markigen Sprüchen. Doch ihr Staatsverständnis ist erbärmlich, wer sich für die Demokratie einsetzt, erntet ihre Geringschätzung. Moral und Selbstkritik sind ihnen fremd. Angriffe auf die Medien gehen ihnen locker von der Zunge. Deshalb werden an diesem Wochenende Menschen in beiden Ländern nicht nur zum Gedenken an die Errungenschaften von 1989 auf die Straße gehen - sondern auch für deren Verteidigung.

Freiheit - so hieß damals die Forderung. Heute lautet sie: Anstand. Diesen fordert nun eine aufgeklärte, junge Generation, die in einer Welt, in der sie reisen und im Ausland studieren darf, gelernt hat, was sie unter einem anständigen Staat versteht. 30 Jahre ist ein gutes Alter. Sie hat schon eigene Erfahrungen gemacht. Sie muss nicht mehr mit den Belehrungen der Alten hadern, sondern kann das Beste daraus machen. Wie junge Erwachsene kommen die jungen Republiken in das Alter, in dem sie wissen, was zählt.

Es gibt Anzeichen und Hoffnung dafür, dass in Mittelosteuropa, das Deutschland, und vielleicht besonders Ostdeutschland nicht nur räumlich, sondern auch mental sehr nahe liegt, eine selbstbewusste neue Generation die Geschicke ihrer Staaten in die richtige Richtung lenken kann. Eine Generation, welche die Errungenschaften ihrer Eltern verteidigt, aus ihren Fehlern lernt, sich aber gleichzeitig auch vom Westen - der an Vorbildwirkung verliert - emanzipiert und einen eigenen Weg findet. Auf diesem liegt der Wille zur Aufarbeitung der zweifachen totalitären Vergangenheit aus nationalsozialistischer Okkupation und kommunistischem Regime. Und die Erfahrung des Systemsturzes, die junge Leute aus der eigenen Kindheit oder Jugend oder auch nur aus der Biografie der Eltern und Großeltern kennen. Eine Erfahrung, die ihr Gewinn sein kann: Systeme können überwunden, Staaten verändert werden.

Eine junge, selbstbewusste Generation weckt Hoffnung für die Länder Mittelosteuropas

In der Slowakei ist das zum Teil bereits wieder gelungen. Mit ihren Protesten nach dem Mord an dem jungen Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten 2018 haben die Menschen mehrere Rücktritte erzwungen, neue Parteien sind entstanden, deren Vertreter nun im EU-Parlament sitzen. Ins Präsidentenamt wählten die Bürger im März die Juristin und Bürgerrechtlerin Zuzana Čaputová. In ihrer Kampagne setzte sie auf Offenheit, Nahbarkeit und Anstand. Nicht wenige sehen in ihr einen neuen Václav Havel. In Tschechien wiederum ist es einer Gruppe Studenten gelungen, Hunderttausende auf die Beine zu bringen, die friedlich die Errungenschaften aus der Revolution von 1989 verteidigen.

Es besteht die Gefahr, dass, wie in anderen Ländern auch, noch einmal die Resignierten und Zyniker, die Populisten und Gestrigen die Oberhand gewinnen. Aber die emanzipierte Gesellschaft, die weiß, was ihr zusteht und das aktiv einfordert und gestaltet, hat bereits nachhaltige Zeichen gesetzt. Ein guter Zeitpunkt für den Westen, sich dieser Generation auf Augenhöhe zu widmen.

© SZ vom 16.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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