Tragischer Irrtum in einem Kinderschänderprozess:Dreizehn zerstörte Leben

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Weil eine Mutter behauptete, sie hätten ihre Söhne missbraucht, standen in Frankreich 13 Menschen vor Gericht. Unschuldig, wie sich jetzt herausstellte. Dennoch lehnt das Gericht ihre Freilassung ab. Von Gerd Kröncke

Paris, 21. Mai - Und wenn nun ein Mensch unschuldig vor Gericht steht und es glaubt ihm keiner, nicht die Öffentlichkeit und nicht die Justiz? Und wenn nicht einer unschuldig ist, sondern dreizehn die Verachtung ertragen müssen für Verbrechen, für die niemand auch nur den Hauch von Verständnis hat, weil Kinderschänder kein Mitleid verdienen? Wenn sie nun hineingezogen sind von Ermittlern, die es gut meinen und keine Zweifel an den Erzählungen der Kinder zulassen, weil man den Opfern glauben muss?

In Frankreich hat sich eine Katastrophe abgespielt, die das Leben unbescholtener Bürger zerstört hat. Einer hatte es nicht mehr ertragen und während der Untersuchungshaft den Tod gesucht.

Dutzende beschuldigt

In der Kleinstadt Outreau im Département Pas-de-Calais war vor vier Jahren ein Fall von Inzest offenbar geworden. In einem dieser unwirtlichen Hochhäuser hatten sich zwei Ehepaare, arbeitslose Sozialhilfeempfänger, erst mit- und untereinander vergnügt und schließlich - so ihre Geständnisse und die Aussagen der Kinder - einen perversen Kick darin gefunden, die vier eigenen kleinen Söhne in die Sex-Orgien einzubeziehen.

Schreckliches ist den Kindern, damals noch alle unter zehn Jahre alt, widerfahren. Doch was öfter vorkommt, als der normale Bürger ahnt, erschien den Ermittlern bald als ein monströser Fall: Es hatten sich, hieß es, angeblich auch andere beteiligt. Die Aussagen von Kevin und seinen Brüdern wurden von den Eltern gestützt, vor allem von Myriam Delay, der Mutter. Zunächst wurden Dutzende beschuldigt, am Ende waren dreizehn übrig geblieben, die seit Anfang Mai vor einer Strafkammer im nordfranzösischen Saint Omer stehen.

Von einem Sex-Ring war die Rede, an dem "Notabeln" des Viertels beteiligt waren: eine Bäckerin, ein Taxifahrer, ein Gerichtsvollzieher, ein Arbeiterpriester. Dass die bescheidenen Menschen als "Notabeln" gezeichnet wurden, konnte der Affäre noch einen zusätzlichen Anflug von Perfidie geben. Mochten sie auch ihre Unschuld herausschreien. Der Priester weigerte sich, über sein Sexualleben Auskunft zu geben, weil er, dem Zölibat unterlegen, dies unwürdig fand. Ein Kind habe ihm ein Herz gemalt, klagte er vor Gericht, aber selbst das habe gegen ihn gesprochen. Man hatte nämlich in dem groben Kinderstrich "kein Herz erkannt, sondern einen Hintern".

Herz für Hintern gehalten

Aber musste man denn nicht in diesen Zeiten mit allem rechnen, wo doch nebenan in Belgien gerade eine ungeheuerliche Geschichte ermittelt wurde? Einmal, hatte Myriam Delay zu Protokoll gegeben, sei man im Nachbarland gewesen. In einer Scheune auf dem Land hätten Orgien stattgefunden. Auch sei ein Kind ermordet worden, ein kleines namenloses Mädchen aus Belgien, man habe es auf dem öffentlichen Grün zwischen den Hochhäusern von Outreau verscharrt. Alle Ermittlungen blieben jedoch ohne Ergebnis. Die Wiesen zwischen den Häusern wurden vergeblich umgepflügt.

Trotzdem hat man den Kindern im Kern glauben wollen, vor allem weil ihre Aussagen von den Hauptangeklagten gestützt wurden. Psychologen und Psychiater erklärten, dass Kinder, als Opfer von Sexualdelikten, die Wahrheit sagen, "selbst wenn es verschiedene Arten von Wahrheit gibt". Dies reflektiert offenbar das schlechte Gewissen einer Zunft, die über lange Zeit den Kindern eher misstraute. Selbst dass sie während ihrer Vernehmung Widersprüchliches erzählten und Kevin gar von einem Totschlag berichtete, dessen angebliches Opfer im Zuschauerraum saß, machte für die Anklage keinen Unterschied.

Die Wende kam diese Woche, als Madame Delay zusammenbrach: "Ich bin krank, ich bin eine Lügnerin." Alles sei erfunden, manche der Beschuldigten hatte sie vom Sehen, manche gar nicht gekannt. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nie glücklich gewesen ist. Es ist die Tragödie einer Frau, die als Kind vom Vater vergewaltigt und von der algerischen Familie mit 14 an einen Cousin verheiratet worden war.

"Ich bin krank, ich bin eine Lügnerin"

"Die zerstörten Leben der 13 Unschuldigen von Outreau", lautete tags darauf die Schlagzeile von Le Monde. Wer Kinder hat, dem wurden sie genommen, sie haben ihren Job verloren, mussten ihre Häuser verkaufen, stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Alle Welt erwartete nun, dass diese Unschuldigen umgehend freigelassen würden. Staatsanwalt und Nebenkläger hatten keine Einwände. Doch das Gericht lehnte ab. Der Skandal geht weiter.

© SZ vom 22.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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