Teilhabe:Etwas kühl

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Protest in der Spree: Blinde und Sehbehinderte im Wasser vor dem Berliner Reichstag. (Foto: Sean Gallup/Getty)

Wann gilt ein Mensch als behindert und wann nicht? Das neue Bundesteilhabegesetz legt neue Kriterien fest. Sozialverbände warnen vor einem härteren Klima.

Von Kim Björn Becker, München

Die Botschaft sollte klar sein und den Initiatoren einige Aufmerksamkeit für ihr Anliegen verschaffen - was denn auch gelungen ist. Am Mittwoch sprangen 14 Blinde und Sehbehinderte vor dem Berliner Reichstag in die etwa 20 Grad kühle Spree. Sie wollten damit gegen ein Gesetz demonstrieren, das an diesem Donnerstag erstmals im Bundestag beraten wird: Das sogenannte Bundesteilhabegesetz von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles soll Behinderte besser stellen, so kündigte es die SPD-Politikerin an. Doch mehrere Behindertenverbände befürchten, dass das Gegenteil davon eintreten könnte. "Es ist kalt, wenn man sich mit der Zukunft beschäftigt, die das Teilhabegesetz möglicherweise für uns vorsieht", sagte Andreas Bethke, der Geschäftsführer des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands, anlässlich des Protests in Berlin.

Die Sehbehinderten wollten mit ihrer Aktion auf einen von gleich mehreren Kritikpunkten an dem Gesetzentwurf hinweisen. Es geht um die Frage, wann jemand als behindert gilt und wann nicht - der Punkt wird in dem Gesetz neu geregelt. Im Entwurf ist vorgesehen, dass hierzu die Beeinträchtigungen in neun unterschiedlichen Lebensbereichen ermittelt werden - wer in mindestens fünf von ihnen spürbar eingeschränkt ist, gilt demnach als behindert. Vor diesem Hintergrund gibt es die Sorge, dass einige Behinderte, die sich in Zukunft erstmals um staatliche Unterstützung bemühen, im Vergleich zu den heutigen Betroffenen außen vor bleiben könnten - weil sie eben nicht behindert genug sind. Der Sozialverband VdK warnte davor, dass Menschen mit Beeinträchtigungen künftig durch das Raster fallen könnten, da sie die neuen Kriterien möglicherweise nicht erfüllen. Dies gelte vor allem für "Menschen mit Sinnesbehinderungen und psychischen Erkrankungen", erklärte ein Sprecher des Verbandes. Die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Corinna Rüffer, warnte, dass der Kreis der Leistungsberechtigten "deutlich eingeschränkt" werde. Union und SPD hätten ein "Spargesetz vorgelegt, auf das sie Inklusion geschrieben haben". Allerdings soll nach Angaben des Sozialministeriums niemand durch das Gesetz schlechter gestellt werden.

Das Vermögen des Partners soll von 2020 an nicht mehr berücksichtigt werden

Eine weitere Kritik an dem Entwurf, der bis zu 7,5 Millionen schwer behinderte Menschen in Deutschland betrifft, zielt auf die Finanzen der Betroffenen. Einige erhalten derzeit eine sogenannte Eingliederungshilfe vom Staat und bekommen zum Beispiel Assistenten zur Seite gestellt, die ihnen im Alltag helfen. Allerdings hängt die Eingliederungshilfe stark vom Einkommen und Vermögen des Antragsteller ab. Wer die Hilfe in Anspruch nimmt, muss derzeit einen wesentlichen Teil seines Gehalts ans Sozialamt abgeben - der monatliche Freibetrag liegt bei 808 Euro, das ist der doppelte Hartz-IV-Satz. Jeder darüber hinaus verdiente Euro muss abgeführt werden, um daraus zum Beispiel die Kosten für die Betreuung zu bezahlen. Deshalb arbeiten viele Menschen mit Handicap nur in Teilzeit, auch wenn sie gerne in Vollzeit arbeiten würden. Und wer Geld erbt oder etwas zur Seite legen möchte, kann das auch nur bis zu einer Höhe von 2600 Euro tun. Alles Weitere zieht hier der Staat ein - das betrifft übrigens auch das Vermögen von Partnern, mit denen Behinderte im selben Haushalt wohnen.

Sozialministerin Nahles will daran etwas ändern. Ihr Entwurf sieht vor, dass die Freibeträge beim Einkommen von 2017 an, wenn das Gesetz in Kraft treten soll, um bis zu 260 Euro pro Monat erhöht werden. Auch soll die Vermögensgrenze von derzeit 2600 Euro angehoben werden - sie soll im kommenden Jahr zunächst um 25 000 Euro auf 27 600 steigen und im Jahr 2020 erneut auf dann 50 000 Euro angehoben werden. Auch soll das Einkommen des Partners nicht mehr angetastet werden, wenn Behinderte Eingliederungshilfe erhalten. Das Vermögen des Partners soll von 2020 an nicht mehr berücksichtigt werden. Das Sozialministerium rechnet damit, dass diese Änderungen von 2020 an etwa 700 Millionen Euro pro Jahr kosten werden. Nach den Worten von Andrea Nahles ist das Gesetz "eines der größten sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung". Ziel sei es, Betroffenen die "volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft" zu ermöglichen.

Es wird allerdings auch kritisiert, dass etliche Menschen mit Handicap von diesen geplanten Verbesserungen ausgenommen seien. Die vorgesehenen Erleichterungen würden nämlich nicht für jene gelten, die neben der Eingliederungshilfe auch Hilfe zur Pflege beziehen - das seien nach Schätzungen zweier Verbände 90 Prozent der Betroffenen. Der Aktivist Raul Krauthausen, selbst behindert, hielt der Bundesregierung daher "Propaganda" vor. Weitere Kritik entzündet sich daran, dass Leistungen der Eingliederungshilfe zusammengelegt werden sollen, sodass sich zum Beispiel mehrere Behinderte einen Assistenten teilen. Dies schränke die Betroffenen aber über Gebühr ein, hieß es, und führe dazu, dass diese verstärkt in Wohn- und Pflegeheime gedrängt würden. Als Reaktion darauf planen einige Aktivisten an diesem Donnerstag erneut einen öffentlichkeitswirksamen Protest in Berlin - sie wollen vor dem Brandenburger Tor ihre Umsiedlung in Behindertenheime symbolisch inszenieren.

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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