Tarifeinheitsgesetz:In der Schwebe

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Kleine, aber mächtige Gewerkschaften klagen gegen das Tarifeinheitsgesetz. Das Problem für die Richter: Bisher traut sich niemand, es anzuwenden.

Von DETLEF ESSLINGER UND WOLFGANG JANISCH, Karlsruhe

Es mutet auf den ersten Blick ein wenig merkwürdig an, wenn acht Richter, die zu den Besten ihres Fachs gehören, in einer Verhandlung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes erst einmal fragen müssen: Was steht eigentlich drin in diesem Gesetz? So ungefähr muss man sich den Auftakt der Anhörung des Bundesverfassungsgerichts über das Tarifeinheitsgesetz vorstellen.

Die klagenden Gewerkschaften bezeichneten das Gesetz als ein Konstrukt, das sie an den "Katzentisch der Tarifverhandlungen" verweise. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Gerichts, wollte dagegen erst einmal wissen, was denn überhaupt die Folgen des Gesetzes seien, das der Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb den Vorrang einräumt, sofern ihr Tarifabschluss mit jenem der Minderheitsgewerkschaft kollidiert. Wandert der gesamte Tarifvertrag der kleinen Konkurrenz in den Papierkorb? Wird er wieder hervorgeholt, sobald der Mehrheitsvertrag ausläuft? Und überhaupt: Ist das Gesetz zwingend, oder können die Tarifvertragsparteien vereinbaren, es in den Betrieben, über die sie verhandeln, nicht anzuwenden?

Zwei Tage lang will der Erste Senat über fünf ausgewählte Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz verhandeln, darunter jene der Vereinigung Cockpit, der Ärztegewerkschaft Marburger Bund und von Verdi. Dass so viel richterliche Vorarbeit nötig ist, hat mit dem "Schwebezustand" des Gesetzes zu tun, wie Cockpit-Anwalt Gerhart Baum es nannte. Mitte 2015 ist es in Kraft getreten, doch bisher will es niemand anwenden. Vielleicht, weil man den Verfassungsrichtern keine Gründe für ein Nichtigkeits-Verdikt liefern will, wahrscheinlich aber auch, weil das Gericht selbst davor gewarnt hatte, schon vor seinem Urteil Fakten zu schaffen. Die Deutsche Bahn jedenfalls hat sich mit der Gewerkschaft der Lokführer darauf verständigt, das Gesetz erst einmal brachliegen zu lassen.

So verständlich das ist - es erschwert, das große Versprechen zu überprüfen, das Andrea Nahles dem Tarifeinheitsgesetz angeklebt hat. Die Bundesarbeitsministerin erläuterte dem Gericht, dass es letztlich darum gehe, Solidarität in Zeiten einer fragmentierten Arbeiterschaft herzustellen. Indem ihr Gesetz Überschneidungen kollidierender Tarifverträge dadurch löse, dass die im Betrieb stärker vertretene Gewerkschaft den Abschluss der kleinen Konkurrenz verdränge, "setzt es Anreize für Kooperation und Abstimmung".

Zwei Tage lang will der Erste Senat über ausgewählte Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz verhandeln, darunter jene der Vereinigung Cockpit, der Ärztegewerkschaft Marburger Bund und von Verdi. (Foto: Uli Deck/dpa)

Führt das Gesetz zu mehr Solidarität - oder zum "Kampf aller gegen alle"?

Den Berufsgewerkschaften wie Cockpit oder GDL soll also das Instrument genommen werden, um ihre Schlüsselposition im Betrieb - ohne Lokführer fährt kein Zug, ohne Pilot fliegt kein Flugzeug - zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. Eine der wichtigen Fragen des Verfahrens wird lauten, das deutete auch der Verfassungsrichter Andreas Paulus an: Führt das Gesetz die Gewerkschaften zusammen? Oder führt es in Wahrheit zum Kampf aller gegen alle? So sehen es jedenfalls die Kläger: In ihren Schriftsätzen warnen sie vor destruktiver Konkurrenz - vom "Häuserkampf" um Mitglieder ist die Rede. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hingegen unterstützt das Gesetz; sein Vorsitzender Reiner Hoffmann versuchte, die Frage des Richters Paulus zu beantworten. "Im Kern geht es dem Gesetz darum", sagte Hoffmann, "dass konkurrierende Gewerkschaften die Möglichkeiten nutzen, eine Verhandlungsgemeinschaft zu bilden." Auf eine Frage nach dem Ist antwortete er also, indem er das Soll skizzierte.

Und wenn es zu dieser Verhandlungsgemeinschaft nicht kommt? Wenn im Gegenteil die kleinere Gewerkschaft ihre eigenen Verhandlungen durchziehen will und auch das Mittel des Arbeitskampfs erwägt? Das ist ja die große Sorge von Organisationen wie dem Marburger Bund oder der Unabhängigen Flugbegleiter-Organisation (UFO): dass sie zu einem Streik aufrufen, der anschließend mit Verweis aufs Tarifeinheitsgesetz für rechtswidrig erklärt wird - und sie Schadenersatz leisten sollen. "Ich hafte dann persönlich", sagte der UFO-Vorsitzende Nicoley Baublies. Der Vertreter der Bundesregierung, der Rechtsprofessor Uwe Volkmann, versuchte, diese Befürchtung zu zerstreuen. Schadenersatz drohe nur, sofern das Verschulden vorher "absehbar" sei. Was Volkmann damit sagen wollte (ohne es freilich ausdrücklich zu sagen): Das sei es nicht.

© SZ vom 25.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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