Taiwan nach der Präsidentschaftswahl:Wenn der Theaterdonner zum Gewitter wird

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Erst ein Attentat, dann ein sensationelles Ergebnis - die Abstimmung in Taiwan war dramatisch aufgeladen und endete in politischen Unruhen. Eine Reportage von Kai Strittmatter

Taipeh, 21. März - Dass er ein guter Redner wäre, kann man nicht sagen. Auch sein Lächeln auf den Plakaten wirkt, als habe er es sich erst in verzweifeltem Kampf mit seiner todernsten Mission abringen müssen. Wenn er von sich spricht, dann in der dritten Person, meist nennt er sich selbst bei seinem Spitznamen: A-Bian. Nein, Präsident Tschen Schui-bian ist mehr steifer Musterschüler als Medienpräsident. Und doch fangen an diesem Samstagabend im Hauptquartier seiner Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) junge Mädchen an, hysterisch zu kreischen, als sie seiner ansichtig werden. Weil es für sie nicht nur um A-Bian geht, sondern um alles. Um Taiwan. A-Bian versteht, es, die Menschen bei ihrer Seele zu packen.

Streifschuss in den Bauch

"Beinahe hätte ich euch heute nicht mehr wiedergesehen", hatte er am Morgen gesagt, als er aus der Wahlkabine trat. "Aber Gott weiß um meine Mission." Der Mann hat am Freitag einen Streifschuss in den Bauch überlebt. Und nun die Wahl gewonnen. Als er auf die Bühne tritt, will der Jubel kein Ende nehmen: Sie brüllen sich ihre Erleichterung von der Seele, ihre Freude, ihre Genugtuung über einen schon verloren geglaubten Kampf. Aber ist sie da wirklich schon zu Ende, die Schlacht? Was für eine Wahl. Als ob Taiwan das Drama nicht ohnehin schon genug liebte, nun noch das: Ein Attentat, ein verletzter Präsident, ein Sieg um Haaresbreite, Verschwörungstheorien.

Ja, die Leute des Präsidenten, sagt der Fahrer auf dem Weg zum Hauptquartier der oppositionellen Kuomintang (KMT), bei denen sei immer die Hölle los. Der Fahrer hat Lien Tschan gewählt, den unterlegenen KMT-Mann: "Da kann man nichts machen", meint er: "Die DFP-Leute würden noch im stärksten Taifun zur Wahl gehen." Und die KMT-Anhänger? "Die bleiben schon zu Hause, wenn's regnet. Keine Leidenschaft". Er seufzt. Und ahnt nicht, dass seine KMT-Leute ihn Lügen strafen werden, schon in wenigen Stunden. Noch aber stehen sie unter Schock.

Sieg der Opposition vorhergesagt

Kann das sein? Monatelang hatte man ihnen einen bequemen Sieg vorhergesagt - die Wiedereroberung des Präsidentenpalastes, den die KMT nach 51 Jahren Herrschaft im Jahr 2000 erstmals hatte räumen müssen.

Für diesen Tschen Schui-bian, diesen in den Augen der KMT-Elite dahergelaufenen Provinzler, der lieber den taiwanischen Dialekt spricht als das Hochchinesische.Und jetzt das: Lausige 29518 Stimmen mehr für Tschen Schui-bian. Bei 13 Millionen Wählern. Zwei Stunden nach Mitternacht. Lien Tschan und James Soong, die beiden Verlierer, haben sich in stillem Protest auf die Bühne gesetzt. Einpeitscher rufen "A-Bian tritt ab!", die Menge brüllt mit.

Sie singen alte Propaganda-Lieder von der Republik China, die "ewig währt": Die Republik China hat die KMT vor mehr als 50 Jahren verloren an Mao Zedongs Kommunisten, aber noch immer träumt sie davon. Deshalb hat Tschen Schui-bian auch gewonnen: Die einen haben die alten Träume satt, die andern nehmen der einst diktatorischen und korrupten KMT den Wandel zur "völlig neuen Partei" nicht ab. Er sei nur ein einfacher Bürger ohne die Ressourcen, die Präsident Tschen zur Verfügung stünden, sagte Lien Tschan letzte Woche.

Kuomintang ist reichste Partei der Welt

Die Ironie entging nicht allen: Lien ist einer der reichsten Politiker Taiwans und steht der reichsten Partei der Welt vor. Die KMT hat sich in den Jahrzehnten ihres Regimes ein weit verzweigtes Firmen- und Medien-Konglomerat geschaffen.

Ans Verlieren ist diese Partei noch nicht gewöhnt. "Neu auszählen!" ruft die Menge. Lien Tschan hat zu ihnen gesprochen: Er erkenne das Ergebnis nicht an, sagte er. Er werde die Wahl anfechten: "Es war eine unfaire Wahl". Da haben sie ihre Stimmen wieder gefunden, und um vier Uhr morgens geben sie sich einen Ruck: Zum Präsidentenpalast! "A-Bian, tritt ab!"

In anderen Städten ist Trauer längst in Wut umgeschlagen, stürmen KMT-Demonstranten Gerichtsgebäude. "Sofort auszählen!", rufen sie, wollen die sechs Monate nicht abwarten, die Taiwans höchstes Gericht über eine solche Entscheidung beraten kann. "Betrug!", rufen sie. Fouls wittern sie überall, zitieren die mehr als 330000 für ungültig erklärten Wahlscheine - mehr als zehn Mal so viel wie der hauchdünne Vorsprung des Präsidenten. Allerdings hatte die Hongkonger Zeitschrift Far Eastern Economic Review genau das schon vor Wochen vorher gesagt: weil mittlerweile so viele Leute mit beiden Kandidaten unzufrieden sind, dass sich eine Bewegung gebildet hatte, die ankündigte, ungültig zu stimmen.

Polizisten konnten angeblich nicht wählen

Wütend ist die KMT auch darüber, dass Tschen Schui-bian nach dem Attentat Sicherheitskräfte in Alarmbereitschaft versetzt hatte, was bedeutete, dass 200.000 Soldaten und Polizisten, traditionell KMT-nahe Gruppen, nicht zur Wahl gehen konnten. Im Zentrum ihres Misstrauens allerdings steht der mysteriöse Attentats-Versuch auf Tschen Schui-bian selbst, der wohl das Ruder zugunsten des Präsidenten herum geworfen hat. Die KMT-Führer schüren die Gerüchte.

"Eine winzige Verletzung des Präsidenten hat der KMT eine schwere Verletzung beigebracht", sagt Jason Hu, KMT-Bürgermeister von Taitschung. "Es gibt bis heute keine Erklärung, die die Wahrheit wiedergeben würde", orakelt KMT-Kandidat Lien Tschan. Die Menge spinnt den Faden dankbar weiter.

"Natürlich ist das eine Verschwörung, die der Präsident selbst dirigiert hat", sagt am Sonntagnachmittag KMT-Anhängerin Liu Schi-ming. "Warum hatte er keine Kugelweste an? Warum ist er nur so leicht verletzt?", beginnt sie "offensichtliche Beweise" aufzuzählen inmitten ohrenbetäubenden Spektakels vor dem Präsidentenpalast: "Schiebung! Schiebung!".

Verschwörungstheorien

Ein tänzelnder alter Mann schiebt uns seinen nackten Bauch vor die Kamera: Darauf aufgemalt in grellem Rot die 11 Zentimeter lange Wunde des Präsidenten und die 14 Stiche, mit der sie vernäht wurde. In Blau steht darüber gekrakelt: "Schwindel". Wie das mit Verschwörungstheorien so ist: Jeder Versuch, sie zu widerlegen, liefert ihnen neues Futter.

Der Präsident ist gar nicht verletzt, hieß es zuerst: Die Ärzte stecken mit ihm unter einer Decke. Daraufhin veröffentlichten die Ärzte ein Foto der Wunde, und Tschen-Sprecher James Huang sagte im TV, wenn der Präsident sich in jener Sekunde auch nur ein Zoll bewegt hätte, könnte er nun tot sein. Auf dem Foto sehe man den Kopf des Präsidenten nicht, hieß es daraufhin.

Am Sonntag zeigte der operierende Arzt Bilder von Tschen auf dem Operationstisch. "Die Bilder sind gefälscht!", glaubt Demonstrant Gao Yong-ling, und schwenkt sein Plakat: "Tschen ist ein Lügner". Nicht alle Verlierer waren so außer sich. Weit ab von der Demonstration, in einem kantonesischen Restaurant, saßen Jeremy Wu und seine Frau beim Dim Sum. "Unsere Demokratie ist erst ein Baby und muss noch wachsen", sagte der KMT-Anhänger: "Und das sind die Wachstumsschmerzen."

© SZ vom 22.03.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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