SZ-Hauptstadtgespräch:Operationen am Patienten Deutschland

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Ein Neubeginn unter Schmerzen: Wie sich die unbeweglich gewordene Bundesrepublik fit für die Zukunft machen kann.

Von Ulrich Schäfer

Die Stimmung im Land ist mies, und die Lage, so scheint es, ist auch nicht viel besser: Die Staatsfinanzen zerrüttet, die Sozialkassen leer, die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau.

Der Kanzler sucht mehr Wachstum... (Foto: Foto: dpa)

Doch jenseits der düsteren Schlagzeilen bewegt sich etwas: Regierung und Opposition haben die weitreichendste Arbeitsmarktreform der bundesdeutschen Geschichte beschlossen; Gewerkschaften und Metall-Arbeitgeber haben sich auf einen Tarifvertrag verständigt, der die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche und zu flexiblen Arbeitszeit-Konzepten erlaubt.

"Wir werden in den Geschichtsbücher auftauchen"

Zugleich wollen fast alle Bundesländer die Schulzeit verkürzen, um Abiturienten schneller an die Universitäten zu bringen. Deutschland erlebe einen fundamentalen Wandel, urteilt der Historiker Paul Nolte: "Was wir derzeit erleben, wird in den Geschichtsbüchern auftauchen".

Ähnlich sieht dies Michael Hüther, der neue Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln: "Wir sind in einer historischen Situation, die über das Jahr 2004 hinausweist." Der Ökonom sprach beim 10. Hauptstadtgespräch der Süddeutschen Zeitung von einem beachtlichen "Neubau". Irgendwelche Untergangsszenarien seien daher völlig unangemessen.

"Deutschland vor einem Neubeginn? - Perspektiven der Arbeitsgesellschaft", lautete das Thema dieses Hauptstadtgesprächs, das auf Einladung der SZ, der Freien Universität Berlin und der BMW Group stattfand. Über die Republik im Wandel berichtet die SZ derzeit auch in einer Serie mit dem Titel "Vorsprung Deutschland".

Mit Hüther und Nolte diskutierten im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt der SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering sowie Thüringens Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU). Moderiert wurde die Diskussion von Chefredakteur Hans Werner Kilz.

Abschied von der Insel

Noch vor kurzem, da waren sich die Wissenschaftler und die Politiker einig, hätten fast alle in Deutschland das Ausmaß der Krise, aber auch den Umfang der notwendigen Veränderungen unterschätzt.

Nach drei Jahren der Stagnation begriffen nun aber die Politik, die Eliten des Landes und auch die Bürger, dass der Wandel weitaus tiefer gehe und sich die Welt des Wirtschaftens und Arbeitens durch den technischen Fortschritt und die Globalisierung dramatisch verändern werde.

"Wir haben geglaubt, wir leben auf einer Insel", befand der Unions-Politiker Althaus. Zu lange hätten die Deutschen dem Staat "viel zu viel Gläubigkeit entgegengebracht" und dessen Möglichkeiten überschätzt. Währenddessen hätten andere Länder ihr Wirtschaftssystem umgebaut und Deutschland überholt: "Ringsherum ist man fit, ist man moderner, ist man zukunftsfähiger."

"Die Illusion platzt jetzt"

Die Bundesrepublik habe sich zu lange "eingekapselt in eine nationalstaatliche Sichtweise", urteilte der Historiker Nolte.

Die Deutschen hätten sich der kollektiven Utopie hingegeben, dass sie ihren Wohlstand mit immer weniger Anstrengungen mehren könnten, mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von vielleicht nur noch 30 oder gar 25 Stunden: "Diese Illusion platzt jetzt", sagte der junge Wissenschaftler von der Internationalen Universität Bremen.

Die "Generation Reform", die Nolte in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat, begreife nun, dass die Spaßgesellschaft am Ende sei. Mühsam müsse sie nun lernen, die Arbeit wieder "in den kulturellen Mittelpunkt der Gesellschaft zurückzuholen".

Einen Reform-Schock für Volk und Politik hat auch SPD-Chef Franz Müntefering ausgemacht. Fünf Jahrzehnte lang sei es der Bundesrepublik recht gut gegangen, die Arbeitszeit sei beständig reduziert worden - doch dann habe sich der Glaube, dass ein hohes Wachstum quasi Gesetz sei, verflüchtigt und in der SPD sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Modell Deutschland der Korrektur bedürfe.

"Wir sind spät dran"

"Wir sind spät dran", räumt Müntefering ein; aber es sei "keine Schande, wenn man klüger wird". Veränderungen, die hier zu Lande jahrelang nur "auf der feuilletonistischen Ebene" diskutiert worden seien, müssten nun von der rot-grünen Regierung auch tatsächlich umgesetzt werden - ein für alle Beteiligten schmerzhafter Prozess:

"Wir haben eine Operation begonnen, wo wir vorher nicht dem Patienten die Diagnose gegeben haben, und wir haben das teilweise ohne Betäubung gemacht." Die Frage dabei sei jedoch: Welche Operation muss der Patient Deutschland tatsächlich erdulden? Und wie tief müssen die Schnitte gehen?

Mit ein paar kosmetischen Korrekturen, sei es nicht getan, glaubt Thüringens Ministerpräsident Althaus. Möglichst zeitgleich müssten die Sozialsysteme umgebaut, das Steuerrecht entrümpelt, der Transfer von Technologie und Wissen und die Bildungssysteme verbessert werden. "Wir müssen uns sputen", forderte Althaus.

Lobbyisten in der Warteschleife

Ohne einen großen Wurf würden die einzelnen Reformvorhaben zerrieben und der Wohlstand geriete in Gefahr.

Dies könne, warnte der CDU-Politiker unter Verweis auf die jüngsten Wahlerfolge der Rechtsradikalen, auch die Stabilität der deutschen Demokratie gefährden. "Die Demokratie ist doch nie allein rhetorisch vermittelt worden", urteilt Althaus.

Sowohl im Westen als auch im Osten sei sie lediglich als Teil des Wohlstands für alle verstanden worden.Auch der Historiker Nolte mahnte die Reformer zu Eile und Entschlossenheit. Die Menschen müssten mehr und länger arbeiten, die Lebens- und Wochenarbeitszeit müsse ausgedehnt und das Hochschul-System dem Wettbewerb ausgesetzt werden.

Der Ökonom Hüther hingegen warnte vor dem Glauben an einen "Königsweg", der schnell die Lösung aller Probleme bringe. Es gebe, wie die Erfolgsmodelle aus dem Ausland zeigten, unterschiedliche Strategien.

Die Saat pfanzen, nicht verfüttern

So hätten die Schweden massiv in Bildung, Forschung und Entwicklung investiert, die Amerikaner in Unternehmen und die Briten verstärkt Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Leute geschaffen. Auch auf die Umsetzung des Reformprozesses komme es an: In Neuseeland habe die Regierung den Interessengruppen einfach keine Termine mehr gewährt.

"Vielleicht sollte man auch in Deutschland die Anrufe alle Lobbyisten in eine Warteschleife in einem Callcenter schicken", riet er. Unstrittig war in der Runde, dass nach den begonnenen Sozial- und Arbeitsmarktreformen nun vor allem das Bildungssystem verbessert werden muss: die Schulen und Hochschulen ebenso wie die Kindergärten.

"Das, was wir vorne versaubeuteln", formulierte Hüther nüchtern, "können wir hinten nicht durch noch so hohe Kosten kompensieren." Städte und Gemeinden sollten zum Beispiel auf sämtliche Gebühren für Kindergärten verzichten, um es Familien zu erleichtern, Kinder und Arbeit miteinander zu vereinbaren: "Das ist ein Wachstumsthema", urteilt der Ökonom. Müntefering betonte, die Bildung sei der "nächste große Teil der Agenda 2010, an den wir ran müssen".

Hier wolle die Regierung mehr Geld investieren; wenn dies nicht gelinge, werde Deutschland seine Spitzenposition auf dem Weltmarkt verlieren. "Die Saatkartoffel muss man pflanzen, man darf sie nicht verfüttern. Wer sie verfüttert, hat im nächsten Jahr nichts mehr zu essen", begründete der SPD-Chef dies mit einem sauerländischen Bonmot.

Alleine im Häuserkampf

Heftig umstritten war hingegen, ob in Zukunft auch die Regeln am Arbeitsmarkt noch flexibler werden müssen. Müntefering lehnt es strikt ab, den Kündigungsschutz weiter zu lockern. Er will den Unternehmen auch nicht per Gesetz erlauben, direkt mit den Betriebsräten über betriebliche Bündnisse für Arbeit zu verhandeln, also über Abweichungen von den geltenden Tarifverträgen:

"Das läuft darauf hinaus, dass jeder im Häuserkampf gucken muss, wie er klar kommt", warnte er. Die Tarifautonomie werde dadurch zerstört. Müntefering wehrt sich auch gegen Forderungen, die Mitbestimmung von Arbeitnehmern in den Aufsichtsräten abzubauen: "Arbeitnehmerrechte stehen nicht zu Disposition - zumindest nicht, solange ich Chef der Sozialdemokraten bin."

Der Historiker Nolte hielt dem SPD-Chef vor, dies sei "altes Denken". Der Ökonom Hüther ergänzte, es gehe nicht darum, in Wild-West-Manier den Kampf zwischen Arbeit und Kapital wieder aufleben zu lassen, sondern um gezielte Korrekturen. Deutschland müsse keineswegs alles übernehmen, was in den USA üblich sei.

Und doch optimistisch

Trotz dieser Differenzen zeigte sich die Runde jedoch davon überzeugt, dass der Reformprozess in den nächsten Jahren weitergehen werde - und es einen Ausweg aus der Krise gebe.Ein Land, das die Kraft zur Wiedervereinigung aufgebracht habe, könne auch dies meistern, urteilte Thüringens Ministerpräsident Althaus.

Optimistisch äußerte sich auch Hüther: "Wir haben es in der Hand. Wir müssen uns nicht dauerhaft auf 1,4 Prozent Wachstum einstellen." Entscheidend sei dabei, nicht nur die Reformen voranzubringen, sondern einen Mentalitätswandel im Land einzuleiten.

Immerhin, so Hüther, habe sich in den letzten Jahren bereits einiges getan: Der ökonomische Druck habe dazu geführt, dass die Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse sich verkürzt hätten und alle Beteiligten schneller zu Veränderungen bereit sind. "Das ist doch die positive Nachricht, dass wir in diesem Land noch in der Lage sind, zu lernen."

© SZ vom 18.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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