Strategie-Papier von 1999:Die neue Nato ist postmodern

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Nach Wegfall des großen Gegners sucht die Allianz eine neue Strategie - sie kann fast alles, doch verpflichtet ist sie zu nichts.

Josef Joffe

(SZ vom 23.04.1999) - Eine feine Idee, jedenfalls theoretisch, ist das "Neue Strategische Konzept", das die Nato an diesem Wochenende in Washington besiegeln will. Denn das klassische Konzept, das dem Bündnis vierzig Jahre lang gedient hat, hat längst ausgedient.

Es war auf die große strategische Bedrohung aus dem Osten ausgelegt, die nicht mehr besteht. Die "Vorneverteidigung" an der deutsch-deutschen Grenze, die "Schichttorte", die sicherstellen sollte, daß die Sowjets nicht nur Deutsche, sondern Amerikaner, Briten, Belgier etc. angreifen mußten; die Ostwärts-Schlachtordnung mit ihren schweren, gepanzerten Streitkräften - vorbei, vorbei, weil auch die Sowjetunion vorbei ist.

Die Bedrohungen sind globaler und diffuser

Ein neues strategisches Konzept muß her, weil die Sowjetunion sich am Weihnachtstag 1991 selbst entleibte und drei Jahre später die letzten russischen Truppen aus Ostdeutschland verschwanden. Gegen welche neuen Bedrohungen muß/will sich das Bündnis wappnen?

Sie sind globaler, vielfältiger und diffuser. "Globaler" heißt, daß die Sicherheit des Westens von jenseits der klassischen Adria-bis-Eismeer-Linie bedroht wird: von den Saddams, die Kontrolle über strategische Ressource wie Öl zu gewinnen trachten; von den Nordkoreas, die es nach Atombomben und weitreichenden Raketen gelüstet; von ozeanüberquerenden Massenvernichtungswaffen überhaupt.

Staatenterror und Informationskrieg

"Vielfältiger" heißt: Es geht kaum noch um jene "geordnete" Kriegsführung, bei der die eine Armee gegen die andere antritt. Es geht um den Terror von Staaten, Gruppen oder gar Individuen wie dem berüchtigten Bin Laden, der keine Adresse hat, aber von überall in der Welt zuschlagen kann.

Es geht um den Massentod durch Mikroben, der in einer Aerosol-Büchse reist. Oder um den "Informationskrieg", der in die Computernetze des Gegners getragen wird und Befehls- und Banken-, Verkehrs- und Versorgungsstrukturen lahmlegt.

Der Völkermord erhöht den Druck auf Europa

"Diffuser" heißt: Nicht Panzer und Armeen ante portas sind das Problem, sondern der mit grausamster Konsequenz geführte Verdrängungs- und Vernichtungskampf, wie er sich seit Ende des Kalten Krieges an den Bruchlinien der Zivilisationen in Bosnien und im Kosovo entfaltet.

Derlei Gemetzel bedroht zwar den Westen nicht direkt, schafft aber einen gewaltigen Interventionsdruck, zumal wenn der Völkermord mitten in Europa begangen wird.

"Teuflische Details" behindern Arbeit am Strategiepapier

Sicherheit, kurzum, heißt nicht mehr zuvörderst Landes- oder Bündnisverteidigung wie in den ersten vierzig Jahren der Nato. Ergo braucht die Allianz ein neues strategisches Konzept, das die neuen Bedrohungen definiert, Kriterien für gemeinsames Handeln formuliert und passende Streitkräftestrukturen konzipiert.

Just daran arbeitet das Bündnis seit fast zwei Jahren, als das "Neue Strategische Konzept" in Auftrag gegeben wurde. Daß es auch heute, am Vorabend des Fünfzig-Jahre-Gipfels, noch nicht fertig ist, beweist, wieviele teuflische Details in der schönen Theorie stecken.

Frankreich und die USA im Konflikt

Wie immer lassen sich die Familienkonflikte der Nato am besten an den Gegensätzen zwischen Frankreich und den USA darstellen. Die Weltmacht wünscht eine breite Definition der Bedrohungen, die ipso facto einen möglichst breiten Fächer gemeinsamen Handelns hergeben - auch ohne Segen des UN-Sicherheitsrates.

Frankreich will das Gegenteil, und zwar mit dem probaten propagandistischen Hinweis, daß die Nato nicht zum "Weltpolizisten", zum imperialen Instrument der amerikanischen hyperpuissance, Hypermacht, werden dürfe.

UN-Sicherheitsmandat als Grundlage

Wie immer in der Geschichte der Nato wird auch dieser Konflikt mit einem Formelkompromiß beigelegt werden, der breit genug ist, um den Realitäten gerecht zu werden.

Welchen? Zweifellos muß die Nato nunmehr von einer globalen Bedrohung ihrer Sicherheit ausgehen, ergo muß sie in der Lage sein, dort zu intervenieren, wo vitale Interessen oder drängende moralische Verpflichtungen dies gebieten. Das heißt, daß sie sich nicht freiwillig an die unzerreißbare Kette eines UN-Sicherheitsrats-Mandats legen wird - aus gleich zwei Gründen.

Machtpolitische Probleme bleiben bestehen

Der eine hat mit der guten alten Machtpolitik zu tun, die natürlich im Sicherheitsrat nicht aufgehoben worden ist. Hier stehen grundsätzlich zwei Veto-Mächte - Rußland und China - bereit, um den Westen zu blockieren, ganz gleich wie hehr dessen humanitäre Motive sein mögen.

Denn im Sicherheitsrat geht es nicht um Moral, sondern um Interessen; er ist kein unparteiisches Gremium wie es etwa das Bundesverfassungsgericht zu sein versucht. Je dicker diese Kette, desto schwerer fiele es dem Westen, das Notwendige oder Richtige zu tun.

Innerstaatliche Konflikte überfordern die UN-Charta

Der zweite Grund müßte aber auch all jenen einleuchten, die an die Kraft des Völkerrechts glauben. Der Politikwissenschaftler Karl-Heinz Kamp hat zurecht notiert: Die UN-Charta "ist in ihrer Grundausrichtung an der Gefahr zwischenstaatlicher Kriege orientiert, in denen zwischen dem Angreifer und dem Angegriffenen unterschieden werden kann. Für die neue Realität innerstaatlicher Konflikte (Bürgerkrieg, Sezession, Genozid) setzte die UN-Charta keine klare Vorgaben. "

Mithin: Selbst wenn alle Vetomächte guten Willens wären, also keine Selbstlähmung entstünde, gäbe die Charta keine solide, eindeutige Legitimierung einer Intervention her.

Selbst-Mandatierung nicht klar definiert

Es müßte jedes Mal erneut zwischen den Risiken von Tun und Nichts-Tun abgewogen werden, und dazu braucht die Nato die UN nicht. Sie ist selber hin- und hergerissen und wird deshalb im Neuen Konzept nichts festschreiben, was Selbst-Mandatierung und weltweiten Aktivismus entweder fordert oder von vornherein verhindert.

Doch brauchen die Franzosen keine Angst zu haben. Die Nato wird nicht das alte Vier-Musketier-Prinzip "Alle für einen, einer für Alle" ablegen zugunsten "Alle für Alles. "

Zweiklassengesellschaft innerhalb der Nato

Längst ist die Allianz zur postmodernen Institution geworden, in der fast alles möglich aber nichts Pflicht ist. Das heißt: Es wird immer quälendere Diskussionen geben, bevor das Bündnis sich, wie im Oktober, per "Activation Order" zur Selbst-Mandatierung gegen die Milosevics dieser Welt durchringt.

Manchmal, wie jetzt im Kosovo, wird die ganze Nato handeln, meistens aber, wie im Golfkrieg, als coalition of the willing, also als Verbund derjenigen Mitglieder, die das Interesse und die Bereitschaft zum Eingreifen teilen.

Kein Befehlsempfänger der Amerikaner

Auf jeden Fall wird die Nato kein Verein sein, in dem der eine die Befehle gibt und die anderen sie ausführen. Auch keine Freibrief-Abstempelanlage; die Geschäftsgrundlage muß jedes Mal neu gefunden werden. Das feinste strategische Konzept wird daran nichts ändern, die Doktrin nie die Debatte ersetzen.

Nur die Franzosen scheinen dies nicht zu verstehen, will man der apokryphen Anekdote glauben, die im Nato-Hauptquartier zirkuliert. "Nato", so ein französischer Diplomat, "funktioniert vorzüglich in der Praxis, aber nicht in der Theorie. " Just deswegen funktioniert sie seit fünfzig Jahren.

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