Steuerkompromiss:Schröders Karte und Fischers Ohr

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Bombadibomm, singt der Rollenkoffer - der deutsche Bundestag hat mit einer Serie von 15 Abstimmungen ein wichtiges, elendes Jahr beendet.

Von Kurt Kister

(SZ vom 20.12.2003) — Es ist viertel nach eins, als sich die Tür zum Kanzlerbüro im Reichstag öffnet. Gerhard Schröder tritt heraus und strebt eilenden Schritts dem Plenarsaal zu. In seiner Funktion als Abgeordneter muss er abstimmen, zum 14. Mal an diesem Freitag. Diesmal geht es um die Absenkung der Schwankungsreserve in der Rentenversicherung sowie die Aussetzung der eigentlich für 2004 anstehenden Rentenerhöhung.

Wenn jetzt jemand, der das gerade liest, nicht weiß, was es eigentlich bedeutet, macht das auch nichts. Am frühen Nachmittag des Freitags nämlich haben selbst im Bundestag längst viele Abgeordnete, ganz zu schweigen von den Journalisten, die Übersicht verloren, welches Gesetz gerade zur Abstimmung steht. Sigrid Krampitz, die wackere Büroleiterin des Kanzlers, ist sich offenbar nicht ganz sicher, ob ihr Chef, der Gerd, der Kanzler nicht auch... "Herr Bundeskanzler", ruft Krampitz dem Enteilenden nach, "die grüne Stimmkarte jetzt!"

Die grüne Karte: Wieder ein kleiner Sieg

Ein paar Minuten vorher, bei der Terrorismusbekämpfung, hat man die gelbe gebraucht, und davor, bei der Gentechnik, die blaue. Da kann man leicht durcheinander kommen. Schröder, vom Krampitzschen Warnruf in der Bewegung gestoppt, bleibt stehen und hebt mit leicht triumphierendem Gesichtsausdruck seine grüne Stimmkarte hoch. Ha, richtige Karte, wieder ein kleiner Sieg.

Kurz vor halb zwei ist dann auch die letzte, die 15. Abstimmung vorüber. Es handelt sich um das namentliche Votum zu Hartz III, was man erklären könnte, aber nicht muss, weil draußen die Sonne scheint, und eine Minute nach der Abstimmung ganze Bataillone Abgeordneter wie ein Zug aufrecht laufender Lemminge in Winterkleidung aus dem Reichstag geradezu hinausstürzen. Gut jeder Zweite zieht einen Rollenkoffer hinter sich her, und die Lobby hallt wieder vom bombadibomm, bombadibomm der Vollplastikrollen. Nichts wie weg hier, Schluss mit der Politik für dieses elende Jahr, bombadibomm.

In der Rückschau war dieser Tag im Parlament das, was man einen Anti-Climax nennt. Monate lang stritt man erst in der SPD, dann in der Koalition, anschließend zwischen Koalition und Opposition und zuletzt zwischen Bundestag und Bundesrat über die Verabschiedung jenes Reformwerks, das der Kanzler am 14. März unter dem Titel Agenda 2010 im Bundestag präsentiert hatte. Schließlich gab es den nach bester Schröder-Manier inszenierten nächtlichen Showdown im Vermittlungsausschuss.

Tag für Tag und Monat um Monat bebte Berlin vor künstlicher Aufregung. Selbst die brillantesten Schlagzeilenmacher hatten allmählich Schwierigkeiten, die Rubriken so zu formulieren, als gehe es nicht in Wirklichkeit meistens um den Streit, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben, sondern um regierungsgefährdende, schicksalhafte Konflikte.

Und dann dieser Freitag. Er begann mit einer Debatte, in der sieben Redner sprachen, ohne etwas zu sagen, was man nicht schon hundert Mal gehört hätte. Der rhetorisch Lebhafteste war Guido Westerwelle, der die Gabe hat, öffentlich so zu sprechen, als sei er ein entschiedener, führungsstarker Mensch. Am meisten Bewegung in die Debatte brachte Joschka Fischer, der allerdings gar nicht redete.

Er fuhr auf dem schienenbeweglichen Ministerstuhl, erhöht über der Abgeordnetenplebs sitzend, unablässig vor und zurück. Als ihm sein Nebenmann Otto Schily etwas ins Ohr sagen wollte, musste Schily ebenfalls vor und zurück rollen, weil ihm sonst das rechte Fischersche Ohr davongefahren wäre.

Dessentweilen sprachen Franz Müntefering und Krista Sager, Fraktionschefs bei Rot und Grün. Beide bemühten sich nachzuweisen, dass die gleich zu verabschiedenden Gesetze lauter Zugeständnisse der Opposition enthielten. Sowohl Müntefering als auch Sager sprachen in erster Linie zu den zahlreichen Skeptikern in ihren eigenen Reihen. Sie würdigten kaum die Tatsache, dass man heute ja immerhin den ersten und in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich einzigen bedeutenden Kompromiss über die Fraktionen hinweg verabschieden würde.

Später sprach Schröder. Er hielt seine Rede frei. Das kann bei ihm zweierlei bedeuten: Entweder ist er so engagiert in einem Stoff zuhause, dass er auf ein Manuskript verzichtet. Oder er hat die Rede schon so oft gehalten, dass er kein Manuskript braucht. Am Freitag war letzteres der Fall. Merkel antwortete, und wenn man für beide Reden nicht den Block als Gedächtnisstütze zu Hilfe nimmt, fällt einem nicht viel mehr ein, als dass beide den Kompromiss lobten.

What else is new?

Ach ja, Merkel rieb Schröder noch hin, dass er ohne die Union seine Vorstellungen gegen die Dissidenten in den eigenen Reihen nicht durchgebracht hätte. Ja, stimmt. Andererseits sagt man zu so einer Erkenntnis in Amerika: What else is new?

Für den Rest der Sitzung versank der Bundestag in den Abstimmungen. Beim Votum Nummer 7, Hartz IV, passierte endlich das, was die Fortsetzung des Streits über die Anzahl der Engel auf der Nadelspitze ermöglichte. Zu Hartz IV gehört die im Vermittlungsausschuss verschärfte Zumutbarkeitsregelung, also die Forderung, dass Langzeitarbeitslose jeden ihnen angebotenen Job annehmen müssen.

Dies lehnten die bundesweit bekannten "Abweichler" bei Rot und Grün ab. 581 Abgeordnete von SPD, CDU, Grünen, FDP und CSU stimmten für das Gesetz, 16 Abgeordnete dagegen: je sechs Rote und Grüne, je zwei von CDU und PDS. Wenn alle 291 anwesenden Abgeordneten der Opposition sowie die zwölf Abweichler gegen das Gesetz gestimmt hätten, hätte Rot-Grün mit nur 294 eigenen Stimmen dieses Votum verloren.

In den Gängen und Lobbys focht man nun das schwer konjunktivische Gefecht um die "eigene Mehrheit" aus. Da von Union, FDP und PDS insgesamt nur 291 Abgeordnete anwesend waren, dekretierte Joschka Fischer mit Feldwebel-Stimme: "Was wollen Sie? Wir haben mehr Ja-Stimmen, als die insgesamt heute Leute da haben. Ganz klar eigene Mehrheit!" Die Schwarzen und die Gelben sahen das natürlich anders und wiesen heftigst darauf hin, dass ohne ihre Stimmen zumindest Hartz IV durchgerasselt wäre.

"Keine eigene Mehrheit!", rief Angela Merkel, und ihr parlamentarischer Geschäftsführer Kauder bildete wuchernde Satzkonstruktionen mit "Wenn wir hätten...Schröder hätte...wäre abgelehnt".

Ja, irgendwie ist das alles richtig. Rot-Grün hatte keine eigene Mehrheit, theoretisch, und praktisch hatten sie die Mehrheit doch. Es gehen mindestens 12.778 Engel auf eine Nadelspitze, und glücklicherweise ist jetzt bis Januar Ruhe mit Hartz, Merkel und Schröder. Hoffentlich.

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