Sozialreformen:Der deregulierte Mensch

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Unstrittig ist, dass die Arbeitskosten gesenkt werden müssen, strittig ist die dagegen die Absenkung der Sicherheiten für die Beschäftigten.

(SZ vom 07.06.2003) - Der große Wurf einer Politik für mehr Arbeit - der Agenda 2010 des Kanzlers gelang er nicht: zu kleinteilig, zu pragmatisch, zu taktisch. Andere glauben zu wissen, wie er geht, der große Wurf, und sie entwerfen ihn in Wirtschaftsexpertisen, Talkshows, politischen Programmen. Das Problem, so lautet die Formel, ist die Arbeitslosigkeit, und die Lösung: der freie Markt.

Um drei Elemente geht es dabei vor allem. Erstens soll tief in die sozialen Sicherungssysteme geschnitten, sollen vor allem die Lohnersatzleistungen verringert werden, damit die drückend hohen Arbeitskosten sinken. Zweitens soll die Macht der Gewerkschaften geknackt, über die Löhne in den Betrieben entschieden werden. Und drittens geht es um das Aufbrechen des als zu starr empfundenen Arbeitsrechts - letztlich um den perfekt flexiblen Arbeits-Menschen.

"Neoliberal" wird dieser große Wurf genannt, doch das ist ein Kampfbegriff seiner Kritiker. Von der "unsichtbaren Hand" hatte Urahn Adam Smith im 18.Jahrhundert als Metapher gesprochen; Ökonomen wie Friedrich von Hayek knüpften hieran im 20. Jahrhundert neu an; heute ist die Theorie Mainstream. Wirtschaftsliberalismus ist vielleicht der beste Name. Es geht um Deregulierung. Oder einfacher: um weniger Staat, weniger Schutz, weniger Entgelt. Dass dieses Denken heute dominant ist, verdankt sich schlichter Verzweiflung: Viel Staat, viel Regulierung, viel Schutz haben zuletzt wenig gebracht. Die Politiker sind Getriebene. Getrieben vom globalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte. Getrieben von der Alterung der Bevölkerung, die die Finanzierung der Sozialsysteme untergräbt. Getrieben schließlich von der Massenarbeitslosigkeit.

Eine Grundthese der Wirtschaftsliberalen ist, dass Arbeit Wachstum schaffen kann - statt umgekehrt. Es geht primär um Angebotspolitik, nicht um die Steigerung der Nachfrage. Der Gegenentwurf beruft sich auf den Ökonomen John Maynard Keynes: Der Staat muss eingreifen. Antizyklisch zum Auf und Ab der Konjunktur kurbeln öffentliche Investitionen die Nachfrage an, finanziert mit Schulden. Zwar meinte im vergangenen Jahr der Würzburger Professor Norbert Berthold: "Das Pendel schlägt wieder Richtung Keynes." Und in Berlin sind dieser Tage ähnliche Töne zu hören. Doch angesichts der Schuldenberge fehlt der Politik dafür einfach das Geld. Und die Schultern der kommenden Generationen, darauf weist der wirtschaftsliberale Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel zu Recht hin, werden schmaler statt breiter sein als die der heutigen.

Zum ersten Element des großen Wurfs: Begrenzung der Sozialleistungen, also des Arbeitslosengelds und der Sozialhilfe. Andernfalls, so die Begründung, würden in doppelter Weise falsche Anreize gegeben. Zum einen ist bei hohen Leistungen niedrig bezahlte Arbeit unattraktiv. Zum anderen bedeuten sie auch hohe Abgaben für die Beschäftigten, ob über Sozialbeiträge oder Steuern. Dies treibt die Arbeitskosten für die Unternehmen in die Höhe, die in Maschinen statt in Menschen investieren oder in Billiglohnländer ausweichen. Die Sozialabgaben wirken wie eine Steuer auf Arbeit. Hohe Abgaben machen zudem Schwarzarbeit attraktiv, was wieder die Beitragszahlungen reduziert. Ein Teufelskreis.

Was die Markt-Denker allerdings außer Acht lassen, ist in zweierlei Hinsicht die soziale Dimension. Der Wert des Einzelnen an unserer Gesellschaft bemisst sich zumeist an seiner Rolle als Arbeitender - und deshalb will die große Mehrheit auch arbeiten. Gerade viele ältere Arbeitslose fühlen sich abgeschoben. Die Rechnung mit den fehlenden Anreizen stimmt daher nur zum Teil. Außerdem bleibt die Frage, wie weit die soziale Sicherung gesenkt werden darf. Zwar will kaum ein Marktwirtschaftler das Existenzminimum unterschreiten lassen; auch sollen Sozialhilfeempfänger Arbeitsangebote bekommen. Dennoch: Elend darf keine Option sein.

"Kollektives Betteln"

Gleichfalls auf die Arbeitskosten zielt das zweite Element wirtschaftsliberaler Arbeitspolitik: der Lohn. "Mehr Beschäftigung kann es in einer Marktwirtschaft nur geben, wenn die Wertschöpfung pro Beschäftigtem real stärker steigt, als die Löhne es tun", das ist die Kernaussage etwa von Horst Siebert, Emeritus des Kieler Weltwirtschafts-Instituts. Außerdem sollen die Löhne von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich hoch ausfallen. Um beides zu erreichen, müssen die Gewerkschaften um ihre gesetzlich gesicherte Verhandlungsmacht gebracht werden. Zumindest sollen Betriebsräte von den Tarifen abweichende Vereinbarungen treffen können. Und: Wenn ein Arbeitgeber aus dem Tarif aussteigt, soll er sofort frei sein von Auswirkungen des gekündigten Vertrages. Der große Wurf geht hier zwar nicht in die falsche Richtung, doch ins Leere. Betriebliche Absprachen sind schon heute möglich - nur dass die Gewerkschaft den betrieblichen Beschluss noch gutheißen muss. Das aber tut sie fast immer. Auch lassen die Tarifverträge bereits Ausnahmen für Not leidende Firmen zu. Zu "kollektivem Betteln" drohten Tarifverhandlungen zu verkommen, wenn die Gewerkschaften ohne Sanktionsmöglichkeiten blieben, hat sogar das Bundesarbeitsgericht gewarnt. Es besteht das Risiko, dass der Unternehmer seine Gewinne maximiert und den einzelnen Arbeitnehmer erpresst - genau deshalb wurden Gewerkschaften gegründet. Ein Problem ist, dass die Gewerkschaften die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer höher gewichten als die von Arbeitslosen - das ist gefährlich.

Im Arbeitsrecht schließlich, dem dritten Element, lautet der große Wurf: Deregulieren. Jedes Element der Sicherung von Beschäftigten, etwa der Kündigungsschutz, ist ein Einstellungshemmnis, so die Argumentation. Weg mit der Beschränkung befristeter Einstellungen, Leiharbeit erleichtern, Anspruch auf Teilzeit aufheben - das sind die Forderungen. "Die Fesseln des Arbeitsmarktes sprengen", nennt das der Bundesverband der Deutschen Industrie. Selbst Keynesianer wie der Wirtschafts-Weise Jürgen Kromphard halten die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt für zu starr. Auch die Mitbestimmung in den Betrieben gilt tendenziell als hinderlich. Alles soll flexibel werden: das Arbeitsrecht wie übrigens auch die Löhne (je nach Unternehmensbilanz oder eigener Leistung), Arbeitsort und -zeiten.

Die Forderung nach Deregulierung ist teils berechtigt, teils nur Psychologie. Beim Kündigungsschutz haben die Unternehmen schon jetzt viele Möglichkeiten. Gerade bei der Deregulierung sind vielleicht die kleinen Würfe die angemessenen. Menschen brauchen ein gewisses Maß an Verlässlichkeit. Natürlich ist es ein Problem, wenn es in Mecklenburg-Vorpommern viele Arbeitslose gibt, die Jobs aber in München sind. Es ist aber auch ein Problem, wenn Menschen ihr soziales Umfeld aufgeben: durch Ortswechsel oder auch durch extreme Arbeitszeiten. Der völlig "flexible Mensch", wie Richard Sennett es kritisch genannt hat, ist eine Schreckensvorstellung.

"Der soziale Friede sollte der Problemlösung nicht im Wege stehen", sagte kühl Juergen B. Donges, ehemals Leiter des Sachverständigenrates der Bundesregierung. Das wirtschaftsliberale Konzept für mehr Arbeit ist in vielem bestechend, ist sicher auch ein großer Wurf. Aber keiner, der große Sympathien weckt.

© Von Jonas Viering - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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