Sonderparteitag:Historische Wahl, historische Schlappe

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Zum ersten Mal hat die SPD in Andrea Nahles eine Frau an die Spitze der Partei befördert. Doch sie erhält nur 66 Prozent der Stimmen - das zweitschlechteste Ergebnis seit 1945.

Von Mike Szymanski, Wiesbaden

Die SPD hat ihrer neuen Vorsitzenden Andrea Nahles einen schweren Start bereitet. Auf einem Sonderparteitag am Sonntag in Wiesbaden ist die 47-jährige Politikerin von den Delegierten mit lediglich 66 Prozent an die Spitze der Partei gewählt worden. Sie bekam das zweitschlechteste Ergebnis in der SPD-Nachkriegsgeschichte. 1995 hatte Oskar Lafontaine eine Kampfkandidatur um den Parteivorsitz gegen Rudolf Scharping mit 62,6 Prozent der Stimmen für sich entschieden. Nahles Gegenkandidatin Simone Lange, Flensburgs Oberbürgermeisterin und Gegnerin der Agenda 2010-Politik ihrer Partei, erfuhr mit ihrer Forderung unter anderem nach der Abschaffung von Hartz IV mehr Unterstützung, als die Parteispitze zuvor angenommen hatte.

Andrea Nahles beim Parteitag in Wiesbaden: Zum Auftakt verpassten ihr die SPD-Delegierten einen Dämpfer. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Nahles kündigte bereits eine neue Debatte über die Zukunft des Sozialstaates an. Eine entsprechende Reform sei dringend erforderlich. Gedanklich müsse "kein Stein auf dem anderen" bleiben: "Aber um eins bitte ich euch: Lasst uns die Debatte mit dem Blick auf das Jahr 2020 führen und nicht mit dem Blick auf das Jahr 2010." Allein Hartz IV abzuschaffen, wie es einige Parteimitglieder wollen, löse noch keine Probleme, sagte Nahles. Bis 2020 soll die Partei ein Konzept entwickeln, mit dem sie in die nächste Bundestagswahl gehen will. Der Sozialstaat müsse "bürgernäher, emanzipativer und gerechter" werden, sagte sie.

Nahles versprach, ihre Partei wieder aus dem Tief herauszuführen. "Wir packen das. Das ist mein Versprechen", rief sie in ihrer kämpferischen Bewerbungsrede den mehr als 600 Delegierten zu. Bei der Bundestagswahl war die SPD unter ihrem damaligen Vorsitzenden Martin Schulz auf 20,5 Prozent abgestürzt. Nahles räumte Fehler ein. "Wir haben im Wahlkampf gesagt, was unser Ziel ist, aber wir haben nicht gesagt, wie wir es erreichen wollen."

Nahles zeigte sich überzeugt, dass die geplante Erneuerung der Partei auch in der großen Koalition gelingen könne. "Den Beweis dafür will ich ab morgen antreten." Als Beispiel führte sie die von der SPD im Koalitionsvertrag verankerten weitreichenden Reformvorschläge für die EU an, die beim Koalitionspartner Union für Unmut sorgen. "Vertrag ist Vertrag. Wir wissen, was wir verhandelt haben. Und wir werden auf die Umsetzung dieses Kapitels Buchstabe für Buchstabe dringen", sagte Nahles. In einem vom Parteitag verabschiedeten Antrag zur Erneuerung heißt es: "Wir wollen die programmatische und organisationspolitische Erneuerung nutzen, um wieder stärkste Kraft zu werden." Nahles warb bei den Gegnern der großen Koalition um deren Unterstützung. Allein könne sie das nicht schaffen: "Wir sind nicht zwei Parteien", sagte sie.

Nahles ist die erste Frau an der SPD-Spitze in der 155-jährigen Parteigeschichte. "Vor 30 Jahren bin ich in die SPD eingetreten. Die erste in unserer Familie. Katholisch. Arbeiterkind. Mädchen. Land. Muss ich noch mehr sagen?" Die Wahl würdigte sie als historisch. "Viele Frauen kennen diese komische gläserne Decke, an die man immer wieder stößt", sagte Nahles. "Heute, hier auf diesem Bundesparteitag wird diese gläserne Decke in der SPD durchbrochen. Und sie bleibt offen."

© SZ vom 23.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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