Serie: Armut in Deutschland (5):"Ich mach später mal Hartz IV"

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Arme Eltern - keine Chancen: Allzu oft geht die simple Gleichung leider auf. Wie Hauptschüler in Deutschland damit umgehen, dass ihr Weg ins Elend schon mit dem ersten Schultag beginnt.

Julia Bönisch

Die Hälfte der Plätze in der Schulmensa ist leer, weil nur Kinder aus bessergestellten Elternhäusern sich das Mittagessen an der Ganztagsschule leisten können. Schüler aus Hartz-IV-Haushalten sitzen nebenan und überbrücken die Mittagspause mit Schokoriegel statt Schnitzel.

Kinderarmut: 1,9 Millionen Kinder leben in Hartz-IV-Haushalten. Ihre Eltern bekommen für sie am Tag 6,80 Euro, die für Essen, Bücher und Garderobe reichen müssen. (Foto: Foto: dpa)

Dieses Bild von hungernden Kindern, deren Eltern zu wenig Geld für das Mittagessen ihrer Kinder haben, bestimmte in den vergangenen Wochen die öffentliche Diskussion - ein Armutszeugnis für ein reiches Land.

Auch die Münchner Hauptschule an der Fürstenrieder Straße bietet für ihre Ganztagsschüler ein Mittagessen an. Auch hier ist die Mensa nur halbvoll - aber nur deshalb, weil heute die achte Klasse einen Ausflug unternimmt und die neunte beim Bewerbungstraining ist. Es gibt Nudelsuppe, Canelloni mit Käse überbacken und zum Nachtisch Melone und Pfirsich.

3,75 Euro für ein Mittagessen

"Mmh, lecker", sagt Feven aus der fünften Klasse und wischt mit dem Zeigefinger den Rest der roten Sauce von ihrem Teller, bevor Klassenkameraden das Geschirr zusammenräumen. Hier kümmern sich die Kinder selbst darum, dass die Tische gedeckt und nach der Mittagspause sauber gemacht werden. "Jeder hat mal Küchendienst", erklärt die Zwölfjährige. "Das ist das Einzige, was am Mittagessen hier nicht so toll ist."

Die Eltern der Hauptschüler können sich bei der Anmeldung entscheiden, ob sie ihr Kind auf den Ganztagszweig inklusive Mittagessen schicken möchten oder nicht. Direktor Heinrich Skiba hat doppelt so viel Anmeldungen, wie Plätze zu vergeben sind - obwohl er vermutet, dass viele Eltern, die ihr Kind gern in der Ganztagsschule sehen würden, die Anmeldung wegen der Kosten scheuen.

1500 Euro Schulden

Das Mittagessen, das ein Catering-Unternehmen jeden Tag frisch anliefert, kostet hier 3,75 Euro. Das ist immer noch zu viel für einige Eltern. "Im Moment stehen wir beim Caterer mit 1500 Euro in der Kreide", sagt Skiba. "Doch das kriegen wir über Benefizveranstaltungen irgendwie schon rein." Die Rotarier engagieren sich für die Hauptschule, auch mit dem Lions Club ist der Direktor im Gespräch. Im vergangenen Jahr hat er ein Benefizkonzert mit einem der Jungen Tenöre organisiert, so dass er das Schuljahr nicht mit Schulden abschließen musste. Nur weil die Eltern das Essen nicht bezahlen können, hat er noch kein Kind aus der Ganztagsklasse hinauswerfen müssen. "Wir wollen keinen Schüler stigmatisieren. Und würden sie nicht auf die Ganztagsschule gehen, würden viele Kinder auf der Straße rumhängen." Entweder, weil die Eltern sich nicht kümmern, oder weil sie damit beschäftigt sind, die hohen Lebenshaltungskosten Münchens zu verdienen.

Skiba hat eine typische Hauptschul-Klientel: Über 65 Prozent seiner Schüler sind Ausländer, die mit der deutschen Sprache Schwierigkeiten haben. Viele Kinder kommen aus zerrütteten Familienverhältnissen, in denen das einzige Einkommen aus der Hartz-IV-Überweisung der Agentur für Arbeit bestritten wird. Und als Hauptschüler, das ist vielen schon in der fünften Klasse klar, werden sie von der Zahlung auch später oft genug abhängig bleiben. Auf die Frage, was sie einmal machen wollen, hat Skiba schon öfter zu hören bekommen: "Ich? Ich mach später mal Hartz IV."

Auf der nächsten Seite: Wie sich Armut auf die Bildungschancen von Kindern auswirkt.

Knapp sieben Euro am Tag

Rund 1,9 Millionen Kinder unter 15 Jahren leben in Deutschland in Hartz-IV-Haushalten. Ihre Eltern bekommen für sie kein Kindergeld, sondern 208 Euro Sozialgeld im Monat. Das sind am Tag 6,80 Euro, die für Essen, Bücher, Spielzeug und Garderobe reichen müssen. Kein Wunder, dass einige Eltern in der Fürstenrieder Straße die 3,75 Euro schuldig bleiben.

In solche Familien hineingeboren, haben Kinder schlechte Chancen, sich aus der Armut zu befreien. Denn die sogenannte Einkommensarmut geht häufig einher mit Bildungsferne und Unkenntnis des Schulsystems. Eltern wissen oft gar nicht, wie der Übertritt nach der vierten Klasse funktioniert oder welche Fördermaßnahmen sie für ihr Kind in Anspruch nehmen könnten. "Wenn diese drei Faktoren zusammenkommen, haben Mädchen und Jungen quasi keine Chance mehr", bestätigt Gerda Holz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt.

Soziale Selektion

Holz hat untersucht, wie sich Armut auf die Bildungschancen von Kindern auswirkt. "Bei gleicher Leistung bekommen Kinder aus armen Familien durchweg schlechtere Noten", erklärt die Sozialarbeiterin und Politologin. Nur zwölf Prozent wechseln demnach nach der Grundschule auf ein Gymnasium. Bei Kindern aus finanziell bessergestellten Familien sind es mehr als drei Mal so viele. "Das liegt unter anderem daran, dass Lehrer bei der Selektion soziale Urteile fällen", erklärt Holz. Einem Schüler aus einer armen Familie werden automatisch schlechtere Chancen eingeräumt, es bis zum Abitur zu schaffen. "Das ist wohlmeinende Diskriminierung: Wenn die Eltern doch schon so viele Probleme mit dem Geld haben, arbeitslos sind, da wollen die Lehrer diesen Haushalt nicht noch mit dem Druck eines Gymnasiums belasten."

Andere Studien gehen in die gleiche Richtung. Nach einer Untersuchung des Deutschen Studentenwerkes steht schon am ersten Tag der ersten Klasse weitgehend fest, welches der Kinder es später einmal wie weit bringen wird. Schüler aus der Unterschicht landen mit großer Wahrscheinlichkeit auf der Hauptschule, Kinder aus Migrantenfamilien können froh sein, wenn sie überhaupt einen Schulabschluss bekommen.

Auch Ulrich Trautwein, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, bestätigt die Selektion nach arm und reich. "Der wichtigste Faktor beim Übertritt ist natürlich die Schulleistung. Aber wenn Schüler auf der Kippe stehen, denken Lehrer durchaus, dass Akademiker schon mal eher Nachhilfe für ihre Kinder finanzieren können." Zudem seien sie für Diskussionen um die Zukunft ihres Kindes besser gewappnet. "Wenn es darum geht, beim Lehrer zu erreichen, dass ihr Kind doch ein Gymnasium besuchen darf, sind sie oft viel geschickter und wortgewandter."

Auf der nächsten Seite: Wie Feven und ihre Klassenkameraden ihre eigenen Zukunftschancen einschätzen.

Sackgasse Hauptschule

Auch deshalb landen Kinder wie Feven eben in der Hauptschule bei Direktor Skiba. Ihre Eltern kamen vor vier Jahren aus Äthiopien nach Deutschland. Ihre Mutter hat keine Arbeit, ihr Vater einen Aushilfsjob. In das Ganztagsangebot schicken ihre Eltern sie, damit sie besser Deutsch lernt, denn zu Hause wird fast nur Amharisch gesprochen. Genauso wie ihre Freunde, die mit ihr am Tisch sitzen, weiß die Fünftklässerin ganz genau, dass die Hauptschule oft genug in einer Sackgasse endet. "Alle meine Cousinen sind auf dem Gymnasium. Wenn ich sagen muss, wo ich zur Schule gehe, ist mir das ein bisschen peinlich."

Sofort beginnt die Diskussion am Mittagstisch: Ist es in Ordnung, ein Hauptschüler zu sein? Was kann man damit einmal erreichen? "Meine Mutter sagt, ich soll immer lernen. Sonst darf ich später nur Putzfrau werden", sagt Alessia. "Die Mama von Debora ist nur Putzfrau", wirft ein anderer ein. Alle lachen.

Die gemeinsame Stunde beim Mittagessen ist für die Kinder wertvoll. Keiner schimpft über das Essen, alle benehmen sich und packen beim Aufräumen mit an. "Wir essen lieber hier als zu Hause", bestätigt Alessia. "Da ist ja keiner, mit dem man sich unterhalten kann."

Ganztagsschule als gesellschaftliches Muss

Im kommenden Schuljahr muss Heinrich Skiba den Betrag für das Mittagessen erhöhen, vermutlich auf 3,95 Euro. Er fürchtet, dass sich dann noch weniger Eltern für das Ganztagsangebot entscheiden. "Dabei ist die Ganztagsschule heute wirklich ein gesellschaftliches Muss. Wohin sollen die Kinder denn sonst gehen?"

Natürlich weiß auch der Pädagoge, dass nicht die Schule allein die Situation der armen Kinder verbessern kann. Aber solange sich kein anderer kümmert, stellt er eben das Nachmittagsangebot auf die Beine. Und eigentlich, sagt er, müsse man schon viel früher ansetzen und sich schon im Kindergarten besonders um Kinder aus armen Familien kümmern

Das fordern auch die Experten Holz und Trautwein. Sie verlangen kostenlose Krippen mit genügend Plätzen. Dort könnten die Kinder individuell gefördert werden. Darüber hinaus würde es den Eltern ermöglicht, selbst zu arbeiten, während ihr Kind betreut wird. Schließlich ist Beschäftigung immer noch das beste Mittel gegen Armut. All das kostet natürlich Geld. Doch die Investition lohnt sich.

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