Serie (9/2): Der Krieg und seine Opfer:Josef, oder: Das Zittern des Krieges

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Ein Opfer in Uniform: Als Reservist der israelischen Armee gerät Kunststudent Josef in den Häuserkampf von Dschenin 2002. Die Tage in dem palästinenischen Flüchlingslager traumatisieren ihn - er leidet bis heute.

Johannes Honsell, Tel Aviv

Für ein paar Augenblicke ist für Josef alles wieder zum Greifen nah. Das kleine Vorzimmer in einem Sichtbetonhaus tief im Westjordanland. Der Staub drinnen und der Gefechtslärm draußen. Die Kinder, die Josef bewacht, weil er jeden für einen Selbstmordattentäter halten muss. Ihr leises Jammern, weil sie zum Weinen zu viel Angst haben.

Überall kann der Feind sein: Israelische Soldaten in der Westbank-Stadt Nablus im Jahre 2002, als der Häuserkampf in Dschenin tobte. (Foto: Foto: AP)

Dann bellt Josefs Hündin Emily, und er kehrt aus der Vergangenheit in sein Apartment in Tel Aviv zurück, wo es leise ist und kein Staub liegt, nur Erinnerungsschutt aus einer lange vergangenen, verhängnisvollen Zeit.

Es war im April 2002, die zweite Intifada tobte. Fast täglich Selbstmordattentate, in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa fuhren die Busse halb leer durch die Straßen. Die Israel Defense Force (IDF) suchte Vergeltung, "chomat magen" hieß die Operation auf Hebräisch - "Schutzwand".

Reservist Josef, damals 25, riefen sie in den Häuserkampf von Dschenin, einem Flüchtlingslager im Westjordanland, wo viele der Drahtzieher von Anschlägen herkamen. Josef, der in Wahrheit anders heißt, war stolz. "Wir wollten eine Wand aufbauen und sagen: Stopp! Damit die Anschläge aufhören."

Verschwimmende Fronten

Doch in Dschenin verschwammen die Fronten, wie so oft in modernen Kriegen. Palästinensische Kämpfer versteckten sich unter Zivilisten, verminten Wohnungen, machten die engen Gassen durch Scharfschützen auf den Dächern unpassierbar. "Du weißt nicht, wer von wo schießt, du siehst die Leute nicht. Und du bist sehr müde und schmutzig und wütend", sagt Josef. Auf wen? - "Auf jeden."

Die Wut wuchs noch, nachdem bei einem Hinterhalt dreizehn israelische Soldaten getötet worden waren. Aus Furcht vor den Scharfschützen arbeitete sich die Armee innen von Haus zu Haus, indem sie die Trennwände zertrümmerte. Auf einmal bedeutete "chomat magen", Mauern einzureißen. Und die erschütterte IDF schaffte schweres Gerät heran. Bilder von Bulldozern gingen um die Welt, die dutzendweise Wohnungen einebneten wie Kartenhäuser.

Am Ende waren 23 israelische Soldaten und 52 Palästinenser tot, 22 davon Zivilisten.

Für Josef ist Dschenin der Grund, warum er nachts kaum noch schlafen kann. Warum er den charakteristischen Geruch von Kampfmonturen (Öl, Schweiß, Staub) nicht erträgt. Und warum er lange Zeit den selben Traum nicht losgeworden ist: Er ist wieder in jenem Raum, als überlebensgroßer Soldat, dann auf einmal als eines der Kinder. Manchmal fällt ein Schuss, manchmal nicht.

Kein Zurück in den Hörsaal

Der Moment mit den Kindern ist für Josef zur Zäsur geworden, der Moment, in dem ihm sein Koordinatensystem abhandengekommen ist. "Da ist etwas zerbrochen. Du versuchst ihnen in die Augen zu sehen, aber sie sehen einen Soldaten mit einer großen Waffe", sagt Josef. Emily bellt wieder in dem Moment, aber vielleicht ist das nur Zufall.

Für den Rest des Einsatzes in Dschenin gab Josef keinen einzigen Schuss mehr ab. "Es war egal, es schoss eh dauernd jeder." Josef ist kein Pazifist - bis Dschenin war er gerne Soldat. Doch den Sprung vom Hörsaal in einen Häuserkampf, auf den ihn niemand vorbereitet hatte, hat er nicht verkraftet. "Die Armee denkt, es ist wie Fahrradfahren: Einmal ein Kämpfer, immer ein Kämpfer. Aber danach musst du wieder in dein echtes Leben zurück, als sei nichts passiert."

Ein paar Wochen nach seiner Rückkehr, als das Adrenalin verebbt war, kam die Schlaflosigkeit, die Paranoia vor Heckenschützen im Gewimmel einer Rave-Party, die Albträume mit den Kindern. Sein Kunststudium brach er ab. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie viele junge Israelis vom Krieg traumatisiert sind - und warum der Reservist Josef seine Angststörung so lange der Armee verschwiegen hat.

Während IDF "chomat magen" beendete, baute sich Josef seinen eigenen Schutzwall. Er zog sich an den Ort in Israel zurück, der von jedem anderen Punkt des Landes am weitesten entfernt ist: Tel Aviv. Die Stadt liebt das Leben und beschäftigt sich wenig mit dem Krieg. Josef wohnt dort in einer ruhigen Gegend nahe dem Fluss, wo Kajakfahrer paddeln und ein paar Straßen weiter hippe Tel Avivis Café Latte mit Milchschaumherz trinken.

Mit Schleudern gegen Panzer: ein palästinensischer Junge während der Kämpfe im Flüchtlingslager Dschenin im Jahre 2002. (Foto: Foto: Reuters)

Aber sein Leben normalisierte sich nicht. Bis heute schläft er selten vor vier Uhr morgens ein, weil es erst dann so richtig ruhig ist und man den Fluss rauschen hören kann. Er kann keine Holzskulpturen mehr schnitzen wie vor dem Krieg, weil ihm das Messer zu sehr zittert. Jede Woche geht er zum Psychotherapeuten.

Der diagnostizierte bei ihm eine chronische posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Bei den Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nannte man es Kriegszittern. Wer daran litt, hatte meist selbst damit fertig zu werden.

Individuelle Schwäche, so dachte man, sei schädlich für das Kollektiv, das größte Kapital einer Armee. Bis heute steht PTBS, dessen Vielzahl von Symptomen die Diagnose und Abgrenzung etwa zu Angststörungen schwierig macht, in vielen Armeen in dem Ruch, eine modische Ausrede für Drückeberger und Feiglinge zu sein.

Das könnte man auch Josef unterstellen, wenn man ihn nachmittags mit Emily im Park spazieren gehen sieht. Gut trainiert, wache Augen über gebräunten, sommerbesprossten Wangen, T-Shirt, Dreiviertelcargohose. Er kann noch lachen, und abends geht er zum Volleyball. Er könnte einer der vielen sorglosen Beach Boys von Tel Aviv sein.

Der braune Brief und der Rat des Vaters

Oder die vielen sorglosen Beach Boys könnten leiden wie er. Mehr als 60 Prozent der israelischen Streitkräfte bestehen aus Wehrdienstleistenden, sie bilden zusammen mit den rund 440.000 Reservisten das Rückgrat der IDF. Wie viele der Soldaten an PTBS leiden, möchte die IDF nicht sagen, nur soviel: Die Zahlen seien seit 1973 konstant.

Josef lebt jetzt davon, den Hunden wohlhabender Tel Avivis Manieren beizubringen. Seinen dreijährigen Grundwehrdienst leistete er in einer Hundestaffel. "Ich bin ein dog shrink, ein Hunde-Psychiater", sagt Josef.

Umgekehrt scheint dasselbe zu gelten: Seit Emily auf seinem Schoss Platz genommen hat, hat sie aufgehört zu bellen, und auch Josef ist ruhiger geworden. Wäre alles anders gekommen, wenn er in Dschenin einen Hund dabei gehabt hätte? "Natürlich", antwortet Josef.

Heilung braucht Zeit, und Abstand zu Kasernen. Doch vor zwei Monaten hat ihn der Vater angerufen: "Sohn, du hast den braunen Brief." Damit ruft die IDF ihre Reservisten zu den Waffen. "Du solltest nicht gehen", sagt der Vater, selbst ein hochdekorierter Soldat.

Erst jetzt, nach dem braunen Brief und fünf Jahre nach Dschenin, hat Josef der Armee gestanden, dass er an PTBS leidet. Dass er nicht sein kann wie die Helden aus den israelischen Kinderbüchern, ein stets tapferer Bürger in Uniform, Israels einziger Schutzwall vor dem Feind.

Er hat Atteste geschickt. Sie werden ihn wohl gehenlassen.

Lesen Sie hier, wie ein palästinensischer Junge die Kämpfe in Dschenin erlebt hat - und welche Abdrücke in seiner Seele zurückgeblieben sind.

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