Seelsorge in Zeiten von Corona:Pforten auf

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Während andere Gotteshäuser im ganzen Land wegen der Corona-Krise geschlossen sind und Gottesdienste ausfallen, ist in der Frankfurter Liebfrauenkirche immer noch einiges los. Ein Rundgang durch einen Zufluchtsort.

Von Matthias Drobinski, Frankfurt

Offene Tür: Bruder Michael Wies (links) und Pater Stefan Huppertz an der Pforte zum Kapuzinerkloster. (Foto: OH)

Der erste Sonnenstrahl fällt durch die bunten Glasfenster, lässt Weihrauchdampf und Staubteilchen im Schiff der Liebfrauenkirche leuchten. Normalerweise vereint um diese Zeit die Frühmesse in Frankfurts City Rentnerinnen, Banker, Obdachlose, die noch eine Mütze Schlaf nehmen. Aber was ist noch normal in dieser Corona-Karwoche? Die Gottesdienste fallen aus, selbst zum Höhepunkt des Kirchenjahres. Und die Kapuziner vom Kloster nebenan achten darauf, dass die Leute sich nicht zu nahe kommen.

Angesichts dessen ist überraschend viel Betrieb im Kirchenraum. Eine Beterin kniet vorne, ein junger Mann hat in der letzten Reihe seine weiße Basecap auf die Banklehne gelegt; einer mit Aktentasche und entschlossenem Blick kommt herein, verneigt sich vorm Altar, verschwindet. Ein alter Mann in ausgebeulten Jeans und kaputten Schuhen hat seine Plastiktüten neben sich gestellt und den Kopf auf die vordere Banklehne sinken lassen.

"Seelenbad Mitte" nennen die Frankfurter die spätgotische Kirche, 1944 niedergebrannt, 1954 wieder aufgebaut. Die Pfarrei hat heute keine 300 Mitglieder mehr. Trotzdem zünden hier Besucher bis zu 2000 Kerzen am Tag an. Die Lichterzahl hat sich seit dem Lockdown halbiert, sagt Pater Stefan Huppertz, Rektor und Seelsorger der Kirche, "die Zahl der Gespräche aber kaum". Als die Ausgangsbeschränkungen kamen, entschieden die Patres: Das Seelenbad Mitte musste offen bleiben. Die Menschen sollten diesen Ort behalten.

Die Zahl der Kerzen hat sich seit dem Lockdown halbiert, die der Gespräche nicht

Was seinen Zauber ausmacht, zeigt sich hinten in der Kirche. Da steht die Statue des heiligen Antonius von Padua, dem Patron der Verliebten und der Vergesslichen. Am Knie des Heiligen ist der Lack ab, bis aufs nackte Holz sind ihm die Menschen zu Leibe gerückt. Wer das Knie des Antonius streichelt, findet Verlorenes, so der Volksglaube, verleiht der Liebe Flügel, hilft der Schauspielkunst auf. Ein älterer Mann in grüner Windjacke packt das Knie des Heiligen. Hat er keine Virenangst, kein Risikogruppenbewusstsein?

Ante Medvidovic lacht. Warum die Dankbarkeit in Quarantäne schicken, die ihn seit 40 Jahren hierher treibt? Damals war er neu in Frankfurt, Frau und Kinder lebten noch in Kroatien. Nachts schlief er nicht, tags schmerzte der Kopf, sein Zimmer verwahrloste. Hilf in der Not, bat er den Heiligen. Siehe da: Der Schmerz verschwand, der Schlaf kehrte zurück, Ordnung kam ins Leben. Zu ihr gehört seitdem, beim Antonius vorbeizuschauen, Kerzen zu entzünden, die Spendenbox zu füttern: Danke, alter Junge.

Es gibt einen weiteren Kerzenort in Liebfrauen: Von der Kirche und der Fußgängerzone aus kommt man in einen stillen Innenhof mit Säulengang. Dort steht eine milchgesichtige Maria, die Augen zum goldbronzenen Heiligenschein verdreht, frommer Kitsch aus dem 19. Jahrhundert. Blumensträuße umrahmen sie, Wachsgeruch füllt den Hof. Heaven Tevolale steht versunken vor der Statue, den Mundschutz vorm Gesicht. Sie sei orthodox, erzählt die 35 Jahre alte Frau aus Äthiopien, aber weil die Kirche auf dem Weg zur Arbeit liege, sei das ihr Ruheort geworden. Die Arbeit in der Gastronomie ruht virenbedingt. Umso wichtiger, göttlichen Beistand zu suchen. Es kommen der Hipster, der längst aus der Kirche ausgetreten ist, aber Omas Wunsch in Ehren hält, immer mal ein Kerzlein anzuzünden, es sind Ruxandra und Sakis da, weil die kleine Tochter im Tragetuch Frischluft braucht und die Eltern die Normalität eines Stadtspaziergangs. Und da sind Patrick und Sigrid Jordan, Hand in Hand, Sigrid mit großem, rundem Bauch: der Gynäkologe hat ihnen zum Spazierengehen geraten, da haben sie hier für eine glückliche Geburt gebetet.

Blättert man durchs Fürbitt-Buch neben der Marienstatue, fällt auf, dass zwar die Zahl der Corona-Bitten gestiegen ist. Häufiger aber sind nach wie vor Grüße "an meinen Papa, der im Himmel auf mich aufpasst" und an andere Verstorbene. Es gibt Bitten um Beistand bei Krebs und den Wunsch: "Lass unser Liebesglück neu aufblühen" - drei Seiten später hat das Paar ein großes Smiley gemalt. Es gibt den Dank für "7000 Tage ohne Alkohol", die Hoffnung, dass aus Marvin ein guter Junge wird, und die ultimative Forderung an Maria: "Ich will Fußballer werden!" In den Tiefenschichten des Flehens ist die Krise zumindest hier noch nicht angekommen.

"Leck mich!" brüllt eine Stimme. Zehn Männer und zwei Frauen haben sich vor der Tür des Franziskustreffs aufgereiht; es gibt Streit, wer wem zu nahe gekommen sein könnte. Die Stimmung ist gereizt. Wer arm ist, wer keine Wohnung hat, den trifft der Lockdown mit voller Wucht. "Die Ämter sind zu", erzählt ein Mann, der erkennbar draußen übernachtet hat, "und du kriegst kein Geld". Am Flughafen, in der Stadt, überall fällt man nun auf, wenn man kein Ziel hat und die Kleider in der Einkaufstasche dabei. Und erst recht, wenn man auf der Suche nach Arbeit hier gestrandet ist, wie die drei jungen Albaner. Auch der Franziskustreff hat sein Angebot eingeschränkt: Statt 35 dürfen nur zwölf Personen in den Raum, die Frühstückszeit ist auf 15 Minuten begrenzt, die Ehrenamtlichen sind daheim, die Hauptamtlichen tragen Schutzmasken. "Gerade jetzt ist es aber wichtig, dass unsere Gäste sich auf uns verlassen können", sagt Bruder Michael Wies, der den Franziskustreff leitet. Eine Frau bringt selbst gebackenen Kuchen. Die Hilfsbereitschaft ist geblieben. Und nach wie vor darf, wer kommt, Platz nehmen und wird bedient.

Wird die Not die Menschen wieder beten lehren, gar zurück in die Messen bringen?

Die Obdachlosen und die bürgerlichen Beter trennt nicht mehr als der Corona-Sicherheitsabstand - und doch eine Welt. Die elf Kapuzinermönche haben sich die Adresskartei aufgeteilt und die Leute angerufen: Wie gehts? Den meisten ging es gut, abgesehen von der Sorge um die Eltern oder der Trauer, die Enkel zu Ostern nicht zu sehen. Nur vereinzelt drückte die Angst um den Arbeitsplatz; Singles klagten über die Einsamkeit. "Wir haben kaum Kontakt zu Familien, die mit zwei Kindern auf 60 Quadratmetern wohnen und um den Aushilfsjob bangen", sagt Pater Huppertz. Zu den häufigsten Wörtern in den Gesprächen hätten "merkwürdig" und "eigentümlich" gehört, als müsse man noch begreifen lernen, was gerade geschehe.

Wird die Not die Menschen wieder beten lehren, gar zurück in die Kirchen bringen? Pater Huppertz glaubt das nicht, "hinter dieser Vorstellung steckt einige Selbstüberschätzung", sagt er. Wenn es nach der Pandemie mehr Nachdenken und mehr Mitmenschlichkeit gebe, dann fände er das gut; wenn die Erkenntnis wachse, wie viel im Leben nicht planbar sei. Einen Livestream aus Liebfrauen wird es zu Ostern übrigens nicht geben. Statt wacklige Bilder in die Welt zu schicken wird die Kirche offen und werden die Mönche da sein.

Der Nachmittag gehört denen, die beichten wollen. Anderswo ist das Sakrament aus der Mode, hier steht eine auf Abstand bedachte Schlange, um im Turmzimmer die Absolution zu erhalten. Andres Babinic-Schulze ist mit seinen drei Kindern hier, er hat ihnen Eis versprochen - das könnte schwierig werden. "Zu Hause in Mühlheim sind die Kirchen zu", sagt er. Doch die Beichte gehört für ihn zum Fest, gerade jetzt, wo er im Home-Office sitzt und froh ist, ein Gegenüber zu haben für seine Fragen. "Vielleicht ist die Krise ein Zeichen für uns," sagt er, "wie gehen wir mit der Welt um, der Natur, den anderen Menschen?"

Eine Antwort, sagt er, habe er nicht. Aber einen Ort, um die Frage zu stellen.

© SZ vom 11.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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