Sechs Monate danach:Prozess zu Anschlägen von Istanbul geplatzt

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Das Staatssicherheitsgericht folgt Argumentation der Verteidigung und erklärt sich für nicht zuständig.

Von Christiane Schlötzer

Der erste Prozess gegen die Drahtzieher der vier Selbstmordanschläge von Istanbul im November ist am Montag kurz nach der Eröffnung geplatzt. Das Staatssicherheitsgericht in Istanbul erklärte sich für nicht zuständig. Grund dafür ist ein juristisches Vakuum, das nach den in großer Eile vollzogenen EU-Reformen entstanden ist.

Das türkische Parlament hatte vor kurzem die umstrittenen, nach dem Militärputsch von 1980 eingerichteten Staatssicherheitsgerichte abgeschafft. Dagegen soll das Gesetz zur Einrichtung neuer Gerichte für schwere Straftaten wie organisiertes Verbrechen erst im Juni verabschiedet werden.

Der Prozesstermin war vor der Verfassungsreform festgesetzt worden. So erschienen zwölf der 69 Angeklagten vor dem Staatssicherheitsgericht, dessen Legitimität ihre Anwälte aber sofort in Zweifel zogen. Daraufhin beantragte auch die Staatsanwaltschaft die Aussetzung des Prozesses.

Aus Verfahrensgründen werden die Angeklagten in dieser Woche zwar weiter vor dem Gericht antreten, sie müssen sich aber nicht zu den 128 Seiten der Anklageschrift äußern. Auch bleiben die Beschuldigten weiter in Haft. Das Verfahren sollte das erste gegen mutmaßliche Al-Qaida-Täter in der Türkei sein.

Ursprünglich war Entführung geplant

Der noch flüchtige mutmaßliche Chef der türkischen Terror-Zelle, Habip Aktas, und die Gruppenmitglieder Baki Yigit und Adnan Ersöz sollen sich mehrmals mit Abu Hafs al-Masri, einem engen Vertrauten Osama bin Ladens, getroffen haben. Al-Masri, alias Mohammed Atef, wurde später bei einem US-Angriff in Afghanistan getötet.

Der inhaftierte Yigit sagte laut Anklage, die türkische Zelle wollte ursprünglich pro-westliche türkische Geschäftsleute entführen. Dies habe bin Laden abgelehnt. Der von al-Qaida gebilligte Plan, die von den USA genutzte Luftwaffenbasis Incirlik anzugreifen, sei wegen der hohen Sicherheitsvorkehrungen aufgegeben worden.

Attentate forderten 64 Tote und 750 Verletzte

Selbstmordkommandos rasten dann im November 2003 mit Lieferwagen, vollbepackt mit Sprengstoff, in zwei Synagogen in Istanbul, und fünf Tage später gegen das Hochhaus der britischen HSBC-Bank sowie das britische Konsulat. Dabei starb auch der britische Konsul Roger Short.

Die vier Anschläge forderten, so der türkische Nachrichtensender NTV in einer letzten Zählung, insgesamt 64 Tote und 750 Verletzte. Die Polizei entdeckte noch weitere Sprengladungen und nahm Dutzende Verdächtige fest. Drei angebliche Haupttäter sind noch nicht gefasst.

Sie werden im Ausland - anfangs hieß es in Syrien - vermutet. Für fünf Personen verlangt die Anklage lebenslange Haft. Den anderen drohen Strafen von viereinhalb bis 22,5 Jahren.

© SZ vom 1. Juni 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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