Schröders Brief im Wortlaut:"Wir befinden uns mitten im Prozess der Veränderung unseres Landes"

Lesezeit: 4 min

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in einem Schreiben auf das Angebot der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und des CSU-Chefs Edmund Stoiber zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit reagiert. Im Folgenden ist der Brief im Wortlaut abgedruckt.

Sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrter Herr Vorsitzender,

weil wir, wie ich hoffe, einig sind in dem Ziel, "den jetzt erreichten Zustand der Massenarbeitslosigkeit nicht hinzunehmen", haben wir im Dezember 2003 gemeinsam eine tiefgreifende Reform der Arbeitsmarktes beschlossen.

Und gerade weil es uns nicht um Statistik, sondern um konkrete menschliche Schicksale geht, haben wir mit Hartz IV gemeinsam das zu Passivität und Abhängigkeit führende bisherige Nebeneinander von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beseitigt und die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass den Menschen - Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden, Jugendlichen - individuell und wirksam geholfen werden kann.

Diese Reform ist in ihren wesentlichen Teilen vor 60 Tagen in Kraft getreten. Wir haben sie gemeinsam in Bundestag und Bundesrat beschlossen. Wir tragen gemeinsam dafür Verantwortung, dass sie ein Erfolg wird.

Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen ist bedrückend. Er ist - auch das wissen Sie - im wesentlichen durch Veränderungen der Arbeitsmarktstatistik begründet.

"Trotz Fülle von Negativ-Schlagzeilen richtig"

Bisher arbeitslose Sozialhilfeempfänger erhalten seit 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II und werden daher neu in der Arbeitslosenstatistik gezählt. Das sprunghafte Anwachsen der Arbeitslosenzahlen ist im wesentlichen darauf zurückzuführen. Auch wenn dies zur Zeit zu einer Fülle von Negativ-Schlagzeilen führt, ist und bleibt Hartz IV richtig.

Wir mussten und müssen die Menschen aus der Sackgasse der Sozialhilfe befreien. Deshalb kann die Antwort wie Sie sagen nicht in "kurzfristigen Aktionen" bestehen.

Die Arbeitslosenzahlen sollten uns vielmehr ein Ansporn sein, die Probleme, die sich bei der administrativen Umsetzung eines derart umfangreichen Reformvorhabens zwangsläufig ergeben, schnell, konstruktiv und im Sinne der betroffenen Menschen zu regeln.

Unsere Hauptaufgabe gilt jetzt der besseren Vermittlung von Jugendlichen. Auch deshalb müssen wir den Umbau der Bundesagentur hin zu einem leitungsfähigen Dienstleister noch schneller vorantreiben.

Alle Instrumente, die zur Beratung und Vermittlung verfügbar sind, müssen umgehend und umfassend eingesetzt werden. Fast zehn Milliarden Euro stehen für aktivierende Maßnahmen zur Verfügung. Es ist unsere gemeinsame Pflicht, sicherzustellen, dass das Geld auch tatsächlich eingesetzt werden kann.

In Ihrem Brief schreiben Sie, jede "Haltung des Weiter so", jede "Fortsetzung des üblichen Tagesgeschäfts" verbiete sich. Das gilt auch für den Stil der politischen Kommunikation. Umso bedauerlicher ist es, dass auch aus ihrem Schreiben noch sehr viel "Tagesgeschäft" spricht. Wie anders ist es zu verstehen, dass Sie am Ende Ihres Schreibens einen "grundlegenden Kurswechsel" fordern, der doch - immer wieder auch in gemeinsamer Verantwortung von Bundesregierung und Opposition - längst begonnen hat?

"Mittelständische Wirtschaft entlastet"

Es ist uns mit unseren Reformen gelungen, den von 1990 bis 1998 andauerndenn Anstieg der Lohnnebenkosten von 35,5 auf 42 Prozent zu stoppen. Wir haben in diesem Jahr die Möglichkeit, erstmals zu einer deutlichen Senkung der Krankenversicherungsbeiträge zu kommen:

Mit dem Jahresüberschuss von rund 4 Milliarden Euro können die Kassen den Beitragssatz um weitere 0,2 Prozentpunkte senken. Und ab Juli 2005 werden die Unternehmen zusätzlich um 0,45 Beitragspunkte entlastet.

Mit unserer Steuerreform haben wir den Eingangssteuersatz von knapp 26 Prozent auf 15 Prozent und den Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Gleichzeitig wurde der steuerliche Grundfreibetrag von 6.322 Euro auf 7.664 Euro angehoben.

Durch diese Maßnahmen sowie die pauschalierte Anrechnung der Gewerbesteuer wird die mittelständische Wirtschaft um jährlich 17 Milliarden Euro entlastet. Die Köperschaftssteuersätze für einbehaltene Gewinne sind seit 1998 von 45 Prozent auf 25 Prozent gesenkt worden.

Mit dem Wechsel vom so genannten Vollanrechnungsverfahren hin zum so genannten Halbeinkünfteverfahren hat die Bundesregierung die Besteuerung von Kapitalgesellschaften europatauglich gemacht. Das konjunkturpolitisch gebotene vollständige Vorziehen der dritten Stufe der Steurerreform auf den 1. Januar 2004 ist am Widerstand der von Ihnen regierten Länder im Bundesrat gescheitert.

Bei Ihren Forderungen nach Veränderung des Kündigungsschutzes unterschlagen Sie, wie viel in diesem Bereich bereits geschehen ist. Wir haben im Jahr 2003 mit Ihrer Zustimmung den Kündigungsschutz für Kleinbetriebe neu geregelt.

In Betrieben mit zehn oder weniger Arbeitnehmern gilt der Kündigungsschutz nicht für Arbeitnehmer, die ab Januar 2004 eingestellt werden. Bei betriebsbedingten Kündigungen wird die Sozialauswahl auf vier Kriterien begrenzt.

Existenzgründer erhalten die Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge bis zur Dauer von vier Jahren abzuschließen. Die Befristungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmer ab 50 Jahren wurden wesentlich erweitert.

Wer heute noch den Kündigungsschutz als Haupthindernis für Neueinstellungen bezeichnet, beweist wenig Kenntnis der tatsächlichen Probleme deutscher Unternehmen.

"Heute schon möglich und täglich gelebte Realität"

Das gilt leider auch für Ihre Forderung nach Schaffung einer rechtlichen Grundlage für betriebliche Bündnisse für Arbeit. Als Ergebnis der Tarifautonomie gibt es ein hohes Maß an betrieblichen Öffnungsklauseln und Betriebsvereinbarungen zur Beschäftigungssicherung.

Dies gilt insbesondere für die Metallbranche und die chemische Industrie. Andere Branchen stehen kaum noch zurück. Die von Ihnen geforderten betrieblichen Bündnisse mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien bedürfen keiner gesetzlichen Grundlage - sie sind heute schon möglich und täglich gelebte Realität!

Wir wissen, dass in einer offenen Volkswirtschaft neue Beschäftigungsmöglichkeiten von allem durch innovative Produkte und Dienstleistungen entstehen.

Die Bundesregierung hat die Förderung von Innovationen und damit neuer Beschäftigung von Anfang an als Kernbestandteil der Agenda 2010 angesehen. Aber während wir uns bei den Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen im Vermittlungsausschuss weitgehend einigen konnten, liegen unsere Vorschläge zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Innovationen in unserem Land weiterhin auf Eis.

Trotz vielfältiger Mahnungen der Hochschulrektoren kommt unser Vorschlag zur Schaffung von Spitzenuniversitäten nicht voran. Das liegt an der Blockade der von Ihnen geführten Landesregierungen. Das gleiche gilt für die Abschaffung der durch die demographische Entwicklung obsoleten Eigenheimzulage, durch die mittelfristig bis zu 12 Milliarden Euro für Bildung und Forschung freigemacht werden könnten. Auch das wird von den von Ihnen geführten Landesregierungen blockiert.

Mit den von Ihnen geforderten Abschied vom "Tagesgeschäft" verträgt es sich nicht, dass Sie die Erarbeitung von fertigen Gesetzentwürfen zu dem von Ihnen vorgeschlagenen 10-Punkte-Programm durch die Bundesregierung zur Voraussetzung von weiteren Gesprächen machen.

"Menschen in diesem Lande längst überdrüssig"

Wer seine Dialogbereitschaft in dieser Weise konditioniert, setzt sich dem Verdacht aus, ein Spiel weiterspielen zu wollen, dessen die Menschen in diesem Lande angesichts der drängenden Probleme längst überdrüssig sind.

Ich bin gern bereit, ein ernstgemeintes Gesprächsangebot anzunehmen. Einige der möglichen Themen - Umsetzung der Arbeitsmarktreformen, Spitzenuniversitäten und Eigenheimzulage - habe ich bereits genannt.

Zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung wird die Bundesregierung Ihnen umsetzbare Vorschläge machen. Die Bundesregierung hat den Sachverständigenrat gebeten, sobald wie möglich realistische Vorschläge zur Fortentwicklung der Unternehmensbesteuerung vorzulegen.

Dabei soll auch geprüft werden, ob es eine Möglichkeit gibt, einbehaltene und für arbeitsplatzschaffende Investitionen verwandte Gewinne von kleinen und mittleren Unternehmen besonders zu begünstigen. Über Ihre belastbaren Vorschläge zur Gegenfinanzierung bin ich jederzeit zu Gesprächen bereit.

Wir haben wichtige Reformen eingeleitet und umgesetzt. Wir befinden uns mitten im Prozess der Veränderung unseres Landes. Gemeinsam tragen wir dafür Verantwortung.

Mit freundlichen Grüßen

© AP - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: