Schnorrer-Kritik des Kanzlers:Lob und Tadel für Schröders Schelte

Lesezeit: 2 min

Mit seiner Kritik an der "Mitnahme-Mentalität" vieler Deutscher hat Bundeskanzler Schröder auch parteiintern eine heftige Debatte über den Sozialstaat ausgelöst. Deutliche Zustimmung signalisieren deutsche Wirtschaftsvertreter.

Auch innerhalb der SPD gehen die Meinungen auseinander. Wirtschaftsvertreter stellten sich dagegen klar hinter den Kanzler-Appell an die Bürger, nicht jede staatliche Leistung mitzunehmen. Kritik kam dagegen vom DGB.

Auch CDU-Chefin Angela Merkel schlug schärfere Töne an. Aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit belegen nach Presseberichten eine Zunahme von Leistungsmissbrauch. Ökonomen sprachen sich allerdings gegen Pauschalvorwürfe aus und nannten das verbreitete Vorurteil, dass der Staat von seinen Bürgern ausgenommen werde, unzutreffend.

Schröder hatte in einem Interview gesagt: "In Ost wie West gibt es eine Mentalität bis weit in die Mittelschicht hinein, dass man staatliche Leistungen mitnimmt, wo man sie kriegen kann, auch wenn es eigentlich ein ausreichendes Arbeitseinkommen in der Familie gibt." Diese Haltung könne "sich auf Dauer kein Sozialstaat leisten, ohne daran zu Grunde zu gehen".

"Der Kanzler hat Recht", betonte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Ludwig Georg Braun in der Bild-Zeitung. "Wer den Sozialstaat ausnutzt, der tut dies auf Kosten aller Steuerzahler." SPD-Wirtschaftsexperte Rainer Wend stellte sich ebenfalls hinter den Kanzler. "Es wird für selbstverständlich gehalten, staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, unabhängig davon, ob man bedürftig ist oder nicht, und ein schlechtes Gewissen hat auch niemand", sagte er der Zeitung Die Welt.

SPD-Arbeitsmarktexperte Klaus Brandner sagte dem Blatt, der Kanzler habe bewusst gemacht, dass staatliche Leistungen, die in Anspruch genommen werden, zunächst einmal erarbeitet werden müssten.

Protest von Westerwelle und Merkel

Von Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle kam Protest. Anstatt Menschen einseitig zu beschimpfen, sollten der Bundeskanzler und seine Regierung ihre Arbeit endlich ordentlich machen, sagte Merkel der Bild am Sonntag. Natürlich gebe es Missbrauch, der nicht geduldet werden dürfe. Es gebe aber auch Menschen, die sich trotz Notlage nicht bei den Ämtern meldeten. Westerwelle sagte dem Blatt, wenn es eine Mitnahme-Mentalität gebe, dann vor allem, weil der "rot-grüne Hochsteuerstaat" jedem in die Tasche greife.

Kritik kam auch aus der SPD. Der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, sagte der Passauer Neuen Presse: "Das geht mir zu weit. Volksbeschimpfung hilft uns nicht weiter." Auch der bayerische DGB-Chef und SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Schösser warnte vor pauschalem Abstrafen. CSU-Sozialexperte Horst Seehofer sprach von einem unsensiblen Vorstoß.

Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, warnte vor Vorurteilen. "Jeder, der staatliche Hilfen bezieht, hat darauf auch einen Rechtsanspruch und wird auf Bedürftigkeit geprüft", sagte er der Bild-Zeitung. Es müsse differenziert werden: Auf jeden Sozialhilfeempfänger komme ein Bürger, der zwar Hilfe beantragen könnte, dies aber aus Stolz, Scham oder Unwissen unterlasse.

Die Arbeitsagenturen haben 2003 laut Tagesspiegel deutlich mehr Fälle von Leistungsmissbrauch aufgedeckt als im Vorjahr. Die Zahl der Bußgeld- und Strafverfahren sei um 21 Prozent auf knapp 225 000 Fälle gestiegen. Das Blatt verweist zugleich auf Berechnungen der Caritas, wonach es bei 100 Sozialhilfe-Beziehern 7 Fälle von Missbrauch gebe.

Die Kosten dafür betrügen jährlich 150 Millionen Euro. Dem gegenüber stünden zwei bis 2,5 Milliarden Euro, die der Staat spare, weil Menschen die ihnen zustehende Sozialhilfe nicht nutzen. Auch beim Wohngeld verzichteten viele lieber, statt es zu beantragen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: