Saint-Denis:Hinterhof der Hauptstadt

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Einer von vielen Scharfschützen am Mittwoch in Saint-Denis. (Foto: P. Dejong/AP)

Einst wurde hier der heilige Dionysius begraben, heute gilt Saint-Denis als Stadt der Abgehängten. Viele Einwohner sehen den Islam als die Lösung an.

Von Rudolph Chimelli

Als man dem heiligen Dionysius, dem ersten Bischof von Paris, im Oktober des Jahres 250 auf dem Märtyrerberg, dem späteren Montmartre, auf Geheiß des Gouverneurs des römischen Gallien den Kopf abschlug, nahm der Gerichtete sein Haupt unter den Arm und lief damit noch sechs Kilometer weit nach Norden. Er kam bis Saint- Denis. Dort setzten ihn die frühchristlichen Gläubigen bei, am Platz der späteren Kathedrale.

In jener Kathedrale sind auch fast alle Könige und Herrscher Frankreichs seit Karl Martell (gestorben 741) begraben. Wer in der nationalen Weihestätte genau welche Gruft einnimmt, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Denn die Revolutionäre von 1789 warfen die königlichen Gebeine auf den Schindanger. Ihre neue Zuordnung in pseudohistorische Sarkophage war die Sache späterer Restauration. Ob unter der schwarzen Platte mit der Aufschrift "Marie Antoinette" wirklich die Reste der geköpften Königin liegen, darüber dürfen sich Touristen ehrfürchtige oder skeptische Gedanken machen. Ein Strumpfband half bei der Exhumierung im 19. Jahrhundert zur Identifizierung ihrer Leiche.

Vom heiligen Dionysius bis in die Gegenwart war Saint-Denis selten ein Symbol der nationalen Einheit, sondern viel öfter ein Ort, an dem ethnische, soziale, politische und oft auch konfessionelle Gegensätze ausgetragen wurden. Heute ist die Gemeinde mit ihren etwas mehr als hunderttausend Einwohnern eine der wenigen Städte Frankreichs dieser Größe, die von einem kommunistischen Bürgermeister verwaltet werden. Paris selbst stand jahrzehntelang politisch rechts.

Wer von der "roten Banlieue" sprach, dem linken Gürtel um die Hauptstadt, dachte meist beispielhaft an St. Denis oder das zugehörige Departement Seine-St.-Denis und die damit verbundenen sozialen Probleme: Übervölkerung, Plattenbauten, hohe Arbeitslosigkeit, mit einem großen Anteil an Zuwanderern aus der islamischen Welt und Afrika, Drogen und andere Formen von Kriminalität. Im Élysée wechseln bürgerliche und linke Präsidenten. Alle paar Jahre macht jeder von ihnen mit seiner Regierung den Versuch, den Augiasstall zu sanieren. All diese Anläufe sind weitgehend wirkungslos verpufft. Der damalige Präsident Nicolas Sarkozy sprach vor einigen Jahren nach einer neuen Welle der Krawalle in St. Denis davon, er werde dort mit dem "Hochdruckreiniger" (Marke Kärcher) ausräumen. Nichts änderte sich. Vor zehn Jahren wurde der Plan einer Weltausstellung, die das düstere Bild der Gegend aufhellen sollte, aufgegeben. Wer jung ist, als Adresse St. Denis angibt, eine mäßige Schulbildung oder Vorstrafen hat und auch noch Mohammed heißt, der hat auf dem Arbeitsmarkt schlechte Karten.

Es gibt verwahrloste Adressen in der nördlichen Banlieue, die von der Polizei, der Feuerwehr, Ärzten und Rettungsdiensten möglichst gemieden werden. Eine Fahrt mit dem Vorortzug RER - auch zum Flughafen Charles de Gaulle - kann zum Risiko werden. Die jungen Parias aus den nördlichen Vorstädten spüren genau, dass niemand sie mag. Die offiziellen Parolen von "Integration" und nationaler Solidarität werden von vielen als leere Phrasen empfunden.

Sie rächen sich mit einem diffusen Hass auf Frankreich und westliche Lebensformen, die für sie ohnehin unerreichbar bleiben. Die spontane Reaktion schlägt um in Vandalismus oder andere Formen aggressiven Verhaltens. Parolen mit dem Tenor "der Islam ist die Lösung" erscheinen vielen attraktiver. Nirgends gibt es auf den Straßen mehr Kopftücher, Salafistenbärte oder Lebensmittelbetriebe, die sich an islamische Speisevorschriften halten, als in der Gegend um die Kathedrale des heiligen Dionysius.

© SZ vom 19.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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