Russland:Wut über die Nebelwerfer

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Die russische Bevölkerung misstraut Präsident Putin, weil es zu viele Widersprüche gibt. Wie etwa konnten die Terroristen ungestört ihre zahlreichen Waffen in die Schule schaffen - nur 200 Meter von der Polizeistation entfernt?

Von Frank Nienhuysen

Die Aufregung war schon abgeflaut, da legte Frankreichs Ministerpräsident noch einmal nach, als hätte es das gewaltige Grollen aus Moskau nicht gegeben. "Natürlich wollen wir angesichts des Terrors gegen Russland unsere Solidarität zum Ausdruck bringen", sagte Jean-Pierre Raffarin, "aber wir wollen auch alle notwendigen Informationen."

Bei einem Protestzug gegen Terror in Russland hält ein Marinesoldat das Zeitungsfoto eines toten Kindes in Beslan hoch. (Foto: Foto: Reuters)

Und auch Tschechiens Außenminister Cyril Svoboda erklärte, "wir haben das Recht und die Pflicht zu fragen, was genau geschah". Bereits die Kritik des EU-Ratspräsidenten Bernard Bot an Moskaus Informationspolitik hatte den Zorn des russischen Außenministeriums ausgelöst und gezeigt: Moskaus Reizschwelle ist niedrig angesichts der Vorwürfe, es halte womöglich Kenntnisse über den Ablauf des Geiseldramas in Beslan zurück.

Das Misstrauen allerdings besteht nicht allein im Westen. Ungewöhnlich scharf attackierten vor allem die russischen Printmedien die eigenen Behörden, die das Ausmaß der Tragödie zu verschleiern versucht hätten. Selbst die Einwohner von Beslan trauen offenbar den offiziellen Verlautbarungen nicht mehr.

Sie wollen ihre eigene Untersuchungskommission einrichten, unabhängig von der der Regierung. Das Bürgergremium verlangt vor allem Einsicht in die Gesprächsprotokolle mit den Geiselnehmern und Klarheit darüber, welche Forderungen die Terroristen gestellt haben.

Wo war die Polizei?

Viel Nebel also liegt noch über den tragischen Ereignissen von Beslan, und damit ist viel Raum für Spekulationen. Wie die Terroristen ungestört große Mengen an Waffen, Munition und Sprengstoff in die Schule der kleinen Stadt Beslan karren konnten, ist eine der Fragen, die sich die Menschen stellen. Die Schule Eins liegt etwa 200 Meter von der lokalen Polizeistation entfernt.

"Wie eine Gruppe von Terroristen an den Sicherheitsbehörden vorbei alle Kontrollpunkte der Stadt passieren konnte - das ist etwas, was man nur mit Gerüchten beantworten kann", schrieb die Zeitung Nowyje Iswestija. Wie zur Antwort hielten am Dienstag in der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas verzweifelte Demonstranten ein Plakat hoch, auf dem stand: "Korruption ist eine Quelle des Terrors."

Nach Ansicht des russischen Sicherheitsexperten Pawel Felgenhauer wurden auch während der Geiselnahme Fehler gemacht. Es habe durchaus eine Chance auf eine friedliche Lösung gegeben sagte er, aber dazu hätten auch ernst zu nehmende Verhandlungen geführt werden müssen. Nach Darstellung der nordossetischen Führung war Präsident Putin sogar zu weit reichenden Zugeständnissen bereit, um das Leben der Kinder zu retten.

Späte Ankunft des Unterhändlers

Sein Berater Aslambek Aslachanow sei beauftragt gewesen, Gespräche mit den Geiselnehmern aufzunehmen, sagte ein Sprecher. Aslachanow indes traf erst am Freitag in Beslan ein, zwei Tage nach Beginn des Überfalls.

Die Zeitung Mosnews berichtete indessen, die Terroristen hätten die Präsidenten der Kaukasus-Republiken Nordossetien und Inguschetien als Vermittler akzeptiert, doch sie seien von Moskau daran gehindert worden, mit den Entführern zu sprechen. Die russische Online-Zeitung gasjeta.ru zitierte eine befreite Geisel, der zufolge die Extremisten vergeblich versuchten, führende Politiker der Region per Telefon zu erreichen. "Da verstanden sie, dass sie für dumm verkauft werden sollten."

Unklar war ebenfalls, wie es zur Eskalation in Beslan kam. Die russischen Spezialeinheiten hätten eine gewaltsame Beendigung der Geiselnahme jedenfalls abgelehnt, sagte Igor Senin am Dienstag der Zeitung Wremja Nowostej. Senin ist Chef der Veteranenvereinigung von Alfa, einer Spezialeinheit des russischen Geheimdienstes FSB.

Sie war in Beslan ebenso eingesetzt wie die andere FSB-Sondereinheit "Wimpel" sowie die Truppen der Omon, die dem Innenministerium unterstehen, und Kräfte der so genannten Speznas, der Elitetruppe des russischen Verteidigungsministeriums.

Zwar scheint die Moskauer Version plausibel zu sein, dass die unvorhergesehene Explosion einer Granate dazu führte, dass sich die Ereignisse überschlugen, das Dach teilweise einstürzte, Panik entstand, Geiseln flüchteten, Terroristen auf sie schossen, und dann erst die Erstürmung spontan begann. Senin aber kritisierte, "niemand hatte die Positionen der Eliteschützen festgelegt oder die Phasen einer möglichen Erstürmung". Zwar habe der Krisenstab über einen Plan der Schule verfügt, diesen aber nicht den Sondereinsatztruppen weitergereicht.

Zivilisten nicht ferngehalten

Auch die Erstürmung selber verlief offenbar recht merkwürdig. Die Zeitung Iswestija fragt unter Berufung auf einen ungenannten Mitarbeiter des Geheimdienstes FSB, wieso die FSB-Truppe Alfa am Beginn der Kämpfe praktisch überhaupt nicht teilgenommen hätte. "Zuerst stürmte eine regionale Einheit der Omon, dann sogar erst eine Art bewaffnete Bürgerwehr. Erst danach sei auch das Kommando Alfa in das Gebäude eingedrungen.

"Als erstes stürmten die Väter der gefangenen Kinder", titelte die Zeitung ihre Geschichte und warf zurecht die Frage auf, ob denn die Schule nicht so hätte abgesperrt werden können, dass Zivilisten vom Brennpunkt fern gehalten würden. Ein britischer Sicherheitsexperte sagte, "ein chaotischer Schusswechsel, Menschen, die in alle möglichen Richtungen liefen - eine koordinierte militärische Operation sähe anders aus."

Viel Stoff also für die von Putin angekündigte Untersuchungskommission. Wie es kommen konnte, dass die Zahl der Geiseln anfangs mit 354 angegeben wurde, später jedoch mehr als verdreifacht werden musste, auch darauf wird von ihr sicher eine Antwort erwartet. "Wir sind die ganze Zeit über belogen worden", schrieb die Zeitung Moskowskij Komsomolez verzweifelt, da stand der neueste Vorwurf noch gar nicht im Raum.

Einige der Geiselnehmer von Beslan, so hieß es bei Wremja Nowostej, seien in der Vergangenheit mehrere Male von der Polizei observiert worden, einige der Terroristen bereits im vorigen Jahr inhaftiert gewesen, dann jedoch wieder freigelassen worden. Eine Bestätigung dafür dürfte es jedenfalls vorerst nicht geben. Die russische Generalstaatsanwaltschaft ordnete an, dass alle Daten fürs Erste als geheim eingestuft werden.

© SZ vom 8.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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