Russisch-europäische Beziehungen:Die neue Ostpolitik

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Russland muss man nicht mögen. Russland kann man misstrauen. Aber Russland ist der mächtige Nachbar der Europäischen Union und ihre strategisch größte Herausforderung. Was umgekehrt genauso gilt.

Martin Winter

In einer Welt, die sich nach der Selbstschwächung der Großmacht USA, unter den Zwängen der Rohstoffknappheit, unter der Drohung des internationalen Terrorismus und angesichts des Aufstiegs neuer Mächte wie China und Indien zu ordnen beginnt, drängt sich eine enge Verzahnung zwischen den beiden Nachbarn geradezu auf.

Das Interesse der EU ist es, keine neue Trennlinie durch Europa zu ziehen, ihre Versorgung mit Öl und Gas zu sichern und zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik mit möglichst vielen Nachbarn zu kommen. Auf der anderen Seite ist Moskau an dem wirtschaftlichen Potential der EU interessiert. Außerdem will es mehr Sicherheit - militärisch, wie auch im Kampf gegen die Kriminalität. Seit Beginn des Jahres hat die russische Führung den Europäern deutliche Signale gegeben, dass sie ihr strategisches Interesse auf die EU konzentriert. Die Zeiten sind also durchaus gut, um das europäisch-russische Verhältnis zu überprüfen.

Dafür braucht es freilich auf europäischer Seite zweierlei. Erstens wird es ohne einen Vorschuss an Vertrauen nicht gehen. Hinter den russischen Avancen müssen keine finsteren Absichten stecken. Niemand sollte blind in Verhandlungen laufen. Aber wer eine ausgestreckte Hand nicht ergreift, der wird nie wissen, wie ehrlich es sein Gegenüber meint. Die Europäer, vor allem die Neumitglieder der EU in Osteuropa, müssen ihre schlechten Erfahrungen mit dem zaristischen und dem sowjetischen Russland nicht vergessen. Sie sollten sich davon aber nicht leiten lassen in einer Zeit, in der Sicherheit und wirtschaftliches Wohlergehen nicht mehr in den Kategorien von territorialen Gewinnen und Panzerverbänden buchstabiert werden.

Natürlich geht es Moskau um Macht und Einfluss, aber darum geht es jedem, der in der Weltpolitik mitspielt. Und wenn die Europäer ehrlich wären, dann würden sie zugeben, dass ihre Beitrittspolitik (vor allem gegenüber der Türkei), ihre Nachbarschaftspolitik und ihre jüngsten Annäherungsversuche im Kaukasus und in Zentralasien keinem karitativen Trieb entspringen, sondern Teil eines von harten Interessen bestimmten Kampfes um Einfluss in der Welt sind.

Kakophonie macht schwach

Zweitens muss die EU mit einer Stimme sprechen, wenn es um Russland geht. Ein kakophones Europa wäre, wenn überhaupt, ein nur schwacher Verhandlungspartner. Das kollektive Schweigen, mit dem die europäischen Regierungen bislang auf die erstaunliche Offerte Wladimir Putins zum 50. Geburtstag der EU reagiert haben, lässt nichts Gutes ahnen.

Der russische Präsident hatte gesagt, dass die europäische Integration nur dann vollendet werden kann, wenn Russland einbezogen wird. Moskau will zwar weder der EU beitreten noch mit ihr gemeinsame Institutionen bilden. Aber es wünscht eine strategische Partnerschaft mit einer EU, die ein zunehmend größeres Gewicht darstellt in der sich entwickelnden multipolaren Welt.

Weil Putin gewöhnlich nicht planlos vor sich hin redet, muss Europa die Worte ernst nehmen. Es gibt sichere Anzeichen dafür, dass Russland lieber die Nähe zu Europa sucht, als zu irgendwelchen obskuren Regimen. In der Auseinandersetzung mit Iran hat sich Moskau inzwischen auf die Seite des Westens gestellt und damit die internationale Isolierung Teherans vorangetrieben. Europäer und Russen arbeiten vertrauensvoll im Nahost-Quartett zusammen. Und bei Russlands Ärger über den amerikanischen Raketenschild in Polen und Tschechien steckt im Kern ja nicht der Beginn einer neuen Eiszeit, sondern im Gegenteil die Botschaft Moskaus, dass es beteiligt sein will. Russland kann sich sogar vorstellen, Teile der Abwehr auf seinem Gebiet zu stationieren. So redet keiner, der sich strategisch von Europa abwendet.

Die Voraussetzungen wären also günstig für den russisch-europäischen Gipfel am 18. Mai in Samara. Der Streit ums polnische Fleisch, der die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommens blockiert, scheint sich langsam zu lösen. Und bei der Geburtstagsfeier der EU plädierte Bundeskanzlerin Angela Merkel nachdrücklich für eine strategische Partnerschaft - nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum transatlantischen Bündnis. Genau dies muss die Kernbotschaft der Europäer sein, auch gerade mit Blick auf die Zumutbarkeit für ihre neuen Mitglieder in Mitteleuropa: Es geht nicht um Partnertausch. Moskau sollte klar gemacht werden, dass bei der Operation Annäherung gewachsene Allianzen nicht zur Disposition stehen.

Absurder Streit ums Fleisch

Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Europa noch nicht so weit ist für eine strategische Neuorientierung. So lange Polen, die baltischen Staaten oder Tschechien hinter Moskaus Politik nur den Versuch vermuten, den russischen Einfluss wieder auf Osteuropa auszudehnen, so lange kann die Europäische Union keine starke Verhandlungsposition entwickeln. Nichts hat zuletzt ein so grelles Licht auf die gegenwärtige Bewegungsunfähigkeit der Europäer geworfen, wie der absurde Fleischstreit zwischen Moskau und Warschau. Bei allem Verständnis für die historischen Verletzungen, die die osteuropäischen Länder erlitten haben: Wer die europäischen Verhandler mit gefesselten Händen und Füßen in die russische Hauptstadt schickt oder sie gar nicht erst reisen lässt, der schwächt die EU. Und der schadet sich selber. Je einiger und stärker die Union außenpolitisch auftritt, desto größer ist auch der Einfluss ihrer Mitglieder. In Warschau oder Prag muss das noch begriffen werden.

Begreifen müssen die Europäer auch, dass ihnen die Siegermentalität der vergangenen Dekade gefährlich werden kann. Nur weil Moskau den Kalten Krieg verloren hat, darf man sich nicht der Illusion hingeben, es mit einem schwachen Verhandlungspartner zu tun zu haben. Die bisherige Politik der EU-Kommission, etwa wirtschaftliche Zusammenarbeit an die Erfüllung bestimmter rechtsstaatlicher Normen zu binden oder an eine weitere Demokratisierung, ist im Wesentlichen fehlgeschlagen. Das heißt nicht, dass die Europäer in Moskau nicht mehr Menschenrechte, Pressefreiheit und Demokratie einklagen sollen. Aber sie dürfen darüber ihre strategischen Interessen nicht vernachlässigen. Im Übrigen sollte man bedenken, dass Partnerschaftsverträge langfristig mehr in Bewegung setzen als kurzatmige Proteste.

Putin hat das Interesse seines Landes an Europa deutlich ausgesprochen. So deutlich wird es nicht oft zu hören sein. Gelingt es nicht bald, also noch unter der deutschen EU-Präsidentschaft, eine einheitliche und selbstbewusste Antwort aller Europäer auf die Offerte zu finden, dann verpasst die EU nicht nur eine große Chance. Sondern sie demonstriert auch, dass ihr Anspruch auf eine Hauptrolle im globalen Spiel Maulheldentum ist. Die Welt wird sich das merken. Zum Nachteil Europas.

© SZ vom 31.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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