Ratlose Auguren:Nobelkomitee überrascht erneut

Lesezeit: 1 min

Unterschiedlicher könnten die Reaktionen kaum sein: Während "Konkurrenzkandidat" Vaclav Havel der neuen Friedensnobelpreisträgerin sogleich herzlich gratulierte, gab sich der 1983 selbst ausgezeichnete Lech Walesa beckmesserisch.

(SZ vom 11.10.2003) — "Das ist unglaublich", schrie er im polnischen Fernsehen, als ihn die Nachricht aus Oslo erreichte. Die Auswahl der Iranerin Schirin Ebadi sei "ein großer Fehler, ein schlimmer Fehler, ein unglücklicher Fehler". Er habe ja nichts gegen diese Frau, "aber wenn jemand auf dieser Welt die Auszeichnung verdient, dann ist das der Heilige Vater".

Johannes Paul II. galt neben Havel als der Favorit für den diesjährigen Friedensnobelpreis. Seine flammende Kritik am Irak-Krieg der Amerikaner und sein Einsatz für einen Dialog der Religionen schienen ihn ihm 25. Jahr seines Pontifikats zu einem fast zwingenden Kandidaten zu machen.

Doch das fünfköpfige Nobelkomitee ließ sich wieder einmal nicht ausrechnen und setzte auf eine Überraschung. Die Auguren, die seit Tagen ihre Tipps abgaben, schauen nun ziemlich ratlos drein. Schon vor einem Jahr hatte sich mancher geirrt, der etwa auf den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai setzte. Am Ende wurde Jimmy Carter erwählt, dessen kurze Glanzzeit schon eine Weile zurück liegt.

"Friedenstaube auf der Schlachtbank"

Das noble Komitee nimmt für sich in Anspruch, sich nicht von der öffentlichen Meinung drängen zu lassen. Eine Kampagne für einen Kandidaten könne den gegenteiligen Effekt haben, weil das Gremium nichts so sehr fürchte als den Eindruck, sich Druck von außen zu beugen, sagt Geir Lundestad, der Sekretär des Komitees. Umso kritischer sind oft die Reaktionen auf die Entscheidungen.

Besonders umstritten waren in früheren Jahren die Auszeichnungen für den Israeli Menachem Begin und den Amerikaner Henry Kissinger. Nicht alle konnten in ihnen primär Männer des Friedens sehen.

Auch die Wahl des Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat und des heutigen israelischen Oppositionspolitikers Schimon Peres im Jahr 1994 stieß auf viel Kritik. Vor einigen Wochen forderte Kaare Kristiansen, ein früheres Komitee-Mitglied, das Gremium solle sich für die Auszeichnung Arafats entschuldigen. Die Begründung: "Der Träger des angesehensten Friedenspreises der Welt legt heute die Friedenstaube auf die Schlachtbank und schwingt über ihr die Axt."

So scharfen Protest müssen die fünf von Oslo gegen ihre diesjährige Entscheidung nicht fürchten. Die Reaktionen sind fast alle positiv. Selbst Lech Walesa tröstete sich am Ende mit der Einsicht: "Der Heilige Vater ist größer als der Nobelpreis und als alle Preise dieser Welt."

© Von Stefan Ulrich - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: