Presseschau:Risse im System Putin

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Die Rentenpläne erschüttern selbst treue Fans des Präsidenten.

Von Julian Hans

Die Gäste im Studio des staatlichen Fernsehens applaudierten begeistert, nachdem Wladimir Putin am Mittwoch sein langes Schweigen zur geplanten Rentenreform gebrochen hatte. In einer halbstündigen Ansprache erklärte der Präsident, es führe kein Weg daran vorbei, dass Arbeitnehmer in Zukunft fünf Jahre länger arbeiten müssen - Männer bis 65, Frauen bis 60. Es sind die härtesten Einschnitte, seit Putin vor 18 Jahren in den Kreml eingezogen ist. Lange hatte er es der Regierung überlassen, die unpopuläre Maßnahme zu verkünden und sich selbst in Schweigen gehüllt. Umfragen zufolge lehnen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung die Reform ab. Darunter auch viele, die gewöhnlich zu den treuesten Stützen des Präsidenten zählen. Der milderte die Reform am Mittwoch leicht ab; eigentlich stand im Entwurf, dass Frauen bis 63 arbeiten sollen. Aber ob alle so begeistert sind, wie die applaudierenden Zuschauer im Studio glauben machen sollten, das beurteilen die Kommentatoren sehr unterschiedlich.

Ehrlichkeit sei die beste Politik, lobt die Komsomolskaja Prawda, größtes Boulevardblatt des Landes und stets auf Kreml-Linie. Putin habe die Möglichkeiten ausgeschöpft, um die Reform abzumildern. "Verantwortungsbewusstsein, Redlichkeit, die Bereitschaft zuzuhören und das Verständnis dafür, dass die verletzlichsten Gruppen der Bevölkerung echte Unterstützung brauchen - das sind die Prinzipien, die dem Präsidenten eine dauerhafte Popularität gebracht haben. Er ist ihnen treu geblieben."

Der Ökonom und frühere Abgeordnete der liberalen Partei Jabloko, Alexej Melnikow, sieht das ganz anders. In einem Beitrag für die Internetseite des Radiosenders Echo Moskaus schreibt er, die Rentenreform sei mehr als ein Fehler des Präsidenten: "Das ist der Anfang vom Ende seines Systems." Selbst die Treue von Menschen, die lange nichts auf Putin kommen ließen, sei jetzt erschüttert, glaubt der Autor.

Oder er hofft es. Vielen werde jetzt klar, dass ihnen das Geld gestohlen wurde, das sie über Jahre in die Pensionskasse eingezahlt haben, schreibt der Oppositionspolitiker Leonid Gosman auf dem Internet-Portal ej.ru. Die Rentenreform werde durchgezogen, "während die Führung des Landes vor aller Augen in Luxus lebt und die Militärausgaben steigen". Einen Aufstand werde es dennoch nicht geben, vermutet der Autor. "Aber im Verhältnis zwischen Volk und Staatsmacht wurde eine Linie überschritten."

Die Wirtschaftszeitung Wedomosti kritisiert, dass die Rentenkasse auch nach der Reform auf Subventionen aus dem Haushalt angewiesen bleibe. Sie werde sich erst wieder ausreichend füllen, wenn die Wirtschaft wächst und die Löhne steigen. Putin habe auch kein Wort über die Angehörigen der Sicherheitsorgane verloren. "Diese Schulterklappenträger können ihre hohen Pensionen weiter schon viele Jahre früher als alle anderen Russen beziehen." Aber nach der Fernsehansprache würden diese offenen Fragen wohl nicht mehr angesprochen, befürchtet der Autor: "Der erste Mann im Staate hat das Thema geschlossen."

© SZ vom 01.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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