Porträt:Karadzic - Kriegsherr auf der Flucht

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Der ehemalige Führer der bosnischen Serben soll die Verantwortung für 75.000 zivile Opfer, 417 Massaker, 378 Lager und 93 Massengräber tragen.

Als die Kommunisten im ehemaligen Jugoslawien das politische Machtmonopol verloren, begann sich der gelernte Psychologe Radovan Karadzic als großserbischer Nationalist zu profilieren. 1990 war er Gründungsmitglied der Serbischen Demokratischen Partei (SDS), deren Präsident er bis 1996 war.

Gesucht: Radovan Karadzic (Foto: N/A)

1991 kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Slowenen und Kroaten in Bosnien-Herzegowina mit der serbisch geführten Bundesarmee.

Die bosnischen Serben antworteten mit der Bildung eines eigenen, selbsternannten "Parlaments" - am 9. Januar 1992 wurde offiziell die "Republika Srpska" mit Zentrum um Banja Luka proklamiert und damit faktisch die Einheit der Republik Bosnien-Herzegowina aufgekündigt.

Die völkerrechtliche Anerkennung Bosnien-Herzegowinas als unabhängige Republik (und folgende Aufnahme in die UN) durch die EG-Staaten und die USA Anfang April 1992 war der Anlass für das Übergreifen des Bürgerkriegs auf Bosnien-Herzegowina.

Anklage: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Wenn auch auf Seiten der Muslime und Kroaten Kriegsgreuel zu verzeichnen waren, so zeigten sich internationale Beobachter weitgehend einig, dass die serbische Seite mit Massenvertreibungen, Vergewaltigungen und brutalem Vorgehen in Gefangenenlagern für die beispiellose Entartung der Auseinandersetzung in erster Linie verantwortlich sei.

Karadzic hat die Übergriffe stets als unvermeidbare Einzelfälle heruntergespielt, die Massenflucht als "freiwilliges" Verlassen der Dörfer, "um in Deutschland Geld zu bekommen", hingestellt und zahllosen von vornherein unglaubwürdigen Waffenstillstandsvereinbarungen zugestimmt.

Den Muslimen warf Karadzic vor, in Gestalt der Einheitsrepublik anderen Volksgruppen die islamische Lebensweise aufzwingen zu wollen.

Karadzics Fernziel bestand darin, die eroberten Gebiete in Nordwestbosnien und die "Serbische Republik Krajina" (Kroatien) mit Serbien zu vereinigen.

Im Juli 1995 erhob das Ende 1993 konstituierte Internationale Tribunal für Verbrechen im früheren Jugoslawien (ITCY) Anklage gegen Karadzic und Armeechef Ratko Mladic wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Im November 1995 wurden die beiden zusätzlich wegen Völkermords nach der Eroberung von Srebrenica angeklagt und ab Juli 1996 per internationalem Haftbefehl gesucht. Insgesamt soll er die Verantwortung für 75.000 zivile Opfer, 417 Massaker, 378 Lager und 93 Massengräber tragen.

Privatarmee schützt Karadzic

Am 1. November 1995 wurden in Dayton im US-Bundesstaat Ohio erstmals seit Beginn des Balkankrieges auf Initiative der USA Friedensgespräche der Staatsoberhäupter Izetbegovic (Bosnien-Herzegowina), Tudjman (Kroatien) und Milosevic (Jugoslawien) aufgenommen, die noch im selben Monat zu einem Friedensabkommen führten (offiziell unterzeichnet am 14. Dezember in Paris).

Danach blieb Bosnien-Herzegowina als ungeteilter Staat mit zentralen Organen bestehen, allerdings in eine muslimisch-kroatische Föderation und eine serbische Gebietseinheit mit Flächenanteilen von 51 zu 49 Prozent gegliedert.

Die geteilte Hauptstadt Sarajevo wurde der Föderation unterstellt, was einen von Karadzic angeordneten Massenexodus der Serben aus den Vororten der Hauptstadt zur Folge hatte.

Als mutmaßlicher Kriegsverbrecher durfte Karadzic nach dem Dayton-Abkommen nicht mehr für öffentliche Ämter kandidieren. Dennoch ließ er sich 1996 zunächst für die Wahl zum Präsidenten der bosnischen Serbenrepublik aufstellen und blieb auch bestätigter Parteivorsitzender der SDS.

Erst auf internationalen Druck übergab er am 19. Juli 1996 Parteivorsitz und Amtsbefugnisse an seine loyale Stellvertreterin Biljana Plavsic. Karadzic behielt aber im Hintergrund die Fäden in der Hand mit dem Ziel, einen unabhängigen serbischen Staat in Bosnien durchzusetzen.

Einer Festnahme durch die IFOR-Truppen oder die UN-Polizei entging er durch den Schutz einer durch dubiose Geschäfte finanzierten Privatarmee, mit der es die Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft aus Angst vor einem Blutvergießen und der Gefahr neuer serbischer Agressionen in Bosnien nicht aufnehmen wollten. Das Angebot von US-Außenministerin Madeleine Albright, in ein Drittland auszureisen, wies er schroff zurück.

Del Ponte: Karadzic wird durch jugoslawische und bosnische Regierung gedeckt

Über den Verbleib von Karadzic kursierten verschiedene Gerüchte. Öffentliche Auftritte vermied er, gab aber der Süddeutschen Zeitung ein umstrittenes Interview, in dem er von der Rolle des Angeklagten in die des Anklägers schlüpfte, der sich und sein Land zu Unrecht beschuldigt sah. Über seine Frau ließ Karadzic verlauten, er werde sich niemals freiwillig dem UN-Tribunal in Den Haag stellen.

Im August 2000 verurteilte ein US-Bundesgericht in New York Karadzic zur Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 745 Millionen US-Dollar. Geklagt hatten mehrere muslimische und kroatische Frauen, die während des Bosnien-Krieges gefoltert und vergewaltigt worden waren.

Im November 2001 beschuldigte Carla Del Ponte, Chefanklägerin des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien, die jugoslawische bzw. die bosnisch-serbischen Regierung Karadzic und andere mutmaßliche Kriegsverbrecher zu decken, deren Aufenthaltsorte ihnen angeblich bekannt seien.

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