Porträt:Ein Volksheld im Krieg

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Das Eingreifen eines greisen Theologen in die irakische Krise weckt Hoffnungen auf allen Seiten. Unter allen schiitischen Autoritäten im Irak genießt Ayatollah al-Sistani das höchste Ansehen. Saddams Regime hat ihn geduldet, und sogar die USA suchen seinen Rat.

Von Rudolph Chimelli

Ein großer Ayatollah hat kein Vaterland. Ali al-Husseini al-Sistani, von dem sich die Iraker die Beilegung des blutigen Zwistes in der heiligen Stadt Nadschaf erhoffen, wurde um 1930 in Maschhad im Iran geboren. Schon sein Name deutet auf die Herkunft aus der persischen Landschaft Sistan hin. Aber er lebt und lehrt seit 1962 in Nadschaf - in einem Milieu, wie er es auch in jedem anderen Zentrum der schiitischen Welt gefunden hätte.

Für die bedeutenden Theologenfamilien, die vielfach miteinander verwandt oder verschwägert sind, spielt eine persische, arabische oder sonstige Nationalität eine nachgeordnete Rolle.

Unter allen schiitischen Autoritäten im Irak genießt Sistani das höchste Ansehen. Auch die drei anderen Groß-Ayatollahs des Landes - Faied aus Afghanistan, Nadschafi aus Pakistan sowie der ermordete Iraker Hakim - hatten ihn nach einigem Widerstreben als Primus anerkannt.

Der Patriarch mit dem weißen Bart und dem schwarzen Turban der Sajeds, der Nachkommen des Propheten, hatte bis zu seiner jüngsten Herz-Behandlung in London sein Haus sechs Jahre lang nicht verlassen. Er redete wenig, empfing nur Vertraute, selten Politiker, niemals Journalisten und ließ auch den amerikanischen Verwalter Paul Bremer nicht vor, obwohl sich dieser über den UNO-Beauftragten Lakdar Brahimi eindringlich um eine Audienz bemüht hatte.

Sadr riskiert völlige Isolierung

Was er zu sagen hatte, ließ Sistani gelegentlich in der Bagdader Zeitung Saman abdrucken - und bereitete damit den amerikanischen Irakologen Kopfzerbrechen. Doch es genügte, dass der Ayatollah sich mit einer anschwellenden Volksmenge auf den Weg von Basra nach Nadschaf machte - und Premierminister Ijad Allawi ordnete nach drei Wochen blutiger Kämpfe am Donnerstag Feuerruhe an.

Sistanis Vorschläge zur Beilegung des Konflikts dürften den Beifall fast aller Iraker finden. Wie aus der Umgebung des Ayatollahs verlautet, soll der radikale Schiitenführer Muktada Sadr seine Kämpfer nicht nur aus dem Schrein Alis, sondern aus der ganzen Stadt abziehen. Die "Besetzung" des Heiligtums müsse beendet werden, sagte ein Sprecher des Ayatollah. Der Rebell wird es sich kaum leisten können, sich gegen den Ruf des Mannes zu stellen, auf den die Mehrheit der irakischen Schiiten hört. Sadr würde damit die völlige Isolierung riskieren.

Lenkt er ein, winken ihm Amnestie und Integration in die Institutionen. Doch auch die Amerikaner sollen gehen und die Regelung des Zwistes hinfort den Irakern überlassen, ließ Sistani wissen. Nadschaf und auch das benachbarte Kufa, am Donnerstag Schauplatz mörderischer Anschläge, sollen "waffenfreie Zonen" werden. Für die geschädigten Einwohner verlangt Sistani Entschädigung.

Ayatollah für Trennung von Religion und Staat

Wie die meisten bedeutenden irakischen Theologen ist Sistani Quietist, ist also für die Trennung von Religion und Politik. Eine weltliche Führerrolle strebt er nicht an. Nach seiner iranischen Heimat zeigt er keine politische Sehnsucht.

Für den Irak will er keine Islamische Republik nach dem Modell Chomeinis. Aber er sieht einen Staat voraus, der deutlich nach den gesellschaftlichen Vorstellungen der Zweidrittel-Mehrheit der Schiiten geformt sein soll. Die von den Amerikanern geschaffenen vorläufigen Institutionen hat Sistani mit Vorbehalten akzeptiert, denn er hatte von Anfang an Wahlen auf der Grundlage der Regel "Ein Wähler, eine Stimme" gefordert.

Als Dauerlösung für eine zukünftige Machtaufteilung wird er sich nicht mit Konstruktionen wie dem Provisorischen Regierungsrat abfinden: Dort hatten die Schiiten eine Mehrheit von 13 zu 12, weil der irakische KP-Chef als einer von ihnen zählte. Ein laizistisches Emigranten-Regime mit quietistischer Duldung entspräche nicht dem Konzept Sistanis.

Den Krieg der USA gegen den Irak hatte er stillschweigend gebilligt. Es war ihm klar, dass Saddam Hussein, der die Schiiten blutig verfolgte, anders nicht gestürzt werden konnte. Der Druck des Baath-Regimes bewirkte einst, dass der Ayatollah sich in sein Haus in einer engen Gasse Nadschafs zurückzog. Ins Exil wollte er nicht. Am Ende blieben ihm nur noch 500 Schüler.

Sorbonne und Vatikan zugleich

Doch sein Ansehen unter den Gläubigen war ungebrochen. Auch in Iran hat Sistani viele Anhänger. Falls sich die Lage im Irak normalisiert, könnte Nadschaf seine alte Stelle als "Vatikan" und zugleich "Sorbonne" der Schiiten zurückgewinnen.

Nach dem Krieg hatte die schiitische Bevölkerung im Süden des Landes die Besatzung mit wohlwollender Neutralität akzeptiert. Terror wie im "sunnitischen Dreieck" kam kaum vor. Die Haltung der großen Ayatollahs war dafür maßgebend. Sadrs Bewegung, die von Anfang an gegen die Amerikaner war, hatte ihren Schwerpunkt zunächst im Bagdader Armenviertel Sadr City, das nach dem von Saddam ermordeten Vater des jungen Rebellen genannt wird.

Im Interesse der Stabilität hätte Sistani auch gegen eine verlängerte militärische Präsenz der Amerikaner wenig einzuwenden gehabt - wenn die politische Verantwortung allein auf gewählte irakische Autoritäten übergegangen wäre.

© SZ vom 27.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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