Parteitag I:Die Übernahme

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Die SPD richtet sich stärker nach links aus und beschließt neue Gespräche mit der Union, der Parteitag bleibt friedlich. Auf die neuen Vorsitzenden, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, warten dennoch stressige Tage.

Von Mike Szymanski, Berlin

Norbert Walter-Borjans muss sich zusammenreißen. Es ist Samstag, der zweite Tag des SPD-Parteitages. Der neue SPD-Chef steht mit seiner Co-Vorsitzenden Saskia Esken im Foyer des Berliner Tagungszentrums am Funkturm. Sie müssen ein Fotoshooting über sich ergehen lassen. Er alleine. Sie alleine. Und natürlich beide zusammen. Das Blitzlicht schmerzt in den Augen. Beide sind müde.

Genau eine Woche ist es her, dass sie als Sieger aus dem Mitgliedervotum hervorgegangen sind. Sie waren nicht wirklich darauf vorbereitet, an die Spitze der Partei zu rücken. Die Partei ist es auch nicht. Seither werden Pläne umgeworfen, neue werden gemacht. Die Woche für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als neue Spitze der SPD, das bedeutete mehr oder weniger: sieben Tage wach.

Der Parteitag läuft für die beiden Politiker, zumindest das. Die SPD richtet sich behutsam stärker nach links aus: neues Sozialstaatskonzept, Rückkehr zur Vermögenssteuer, Kindergrundsicherung. Sie bereitet sich vor auf die 2020er-Jahre. "In die neue Zeit", heißt das Parteitagsmotto. Und die SPD zerlegt sich - anders als es zu befürchten stand - nicht in der Frage, ob sie nun in der Koalition bleiben soll oder nicht.

Noch im Wahlkampf für die Parteispitze hatten Esken und Walter-Borjans die Erwartung geweckt, es könnte jetzt bald zu Ende sein mit dem ungeliebten Bündnis.

Und dann? Es hat Gründe, warum die beiden lieber noch einmal reden wollen mit dem Koalitionspartner. Gespräche darüber, was sich die Union noch an Projekten vorstellen kann, das hat der Parteitag mit großer Mehrheit beschlossen. Mit wem sollten Esken und Walter-Borjans denn jetzt auch den Ausstieg organisieren?

Wenn die beiden Politiker an diesem Montag in der Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus, in die Arbeitswoche starten, dann als ziemlich einsame Kämpfer. Viele Schlüsselstellen sind nicht besetzt. Der Bundesgeschäftsführer der SPD, Thorben Albrecht, hat auf dem Parteitreffen seinen letzten Tag. Er war unter Vorgängerin Andrea Nahles gekommen und hatte klargemacht, dass mit ihr auch seine Zeit im Willy-Brandt-Haus zu Ende geht, wenn auch nicht so fluchtartig.

Neues Personal muss her. Ohne Büroleiter starten nur Törichte die Revolution

Der Redenschreiber für die Parteispitze hört auf. Der Pressesprecher wechselt in die Fraktion. Büroleiterin oder Büroleiter - bringt in der Regel die Neue oder der Neue mit. Aber sie sind noch auf der Suche. Es ist am Ende ganz einfach: Ohne Büroleiter starten nur Törichte die Revolution.

Sieben Tage wach: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken am Samstag in Berlin. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Eine solche Übernahme an der Spitze der Partei dürfte es noch nicht gegeben haben: Dass Esken und Walter-Borjans sich während Parteitags immer mal wieder zum Telefonieren oder für Gespräche zurückziehen, hat auch damit zu tun, dass sie das Willy-Brandt-Haus unter neuer Führung jetzt zum Laufen bringen müssen.

Immerhin bleibt ihnen Generalsekretär Lars Klingbeil erhalten. Der 41-Jährige dürfte es mittlerweile auch eher sportlich sehen, wer unter ihm die Partei führt. Martin Schulz hatte ihn 2017 zum Generalsekretär gemacht. Rechnet man die kommissarischen Chefs hinzu, dann hat er in diesen zwei Jahren sechs Vorsitzenden gedient. Dass er den Rechenschaftsbericht vortragen durfte, war in gewisser Weise zwingend - wer sonst? Er dürfte gut trainiert darin sein, die Neuen an der Spitze nicht nur durchs verwinkelte Haus zu führen, sondern ihnen auch erklären zu können, wo die Probleme liegen.

In der Regel bringen neue Chefs ihre eigenen Leute mit, und dann können die alten Mitarbeiter kaum schnell genug ihre Büros räumen. Aber bei Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ist das anders. Sie haben ihre Kampagne auf Leute gestützt, die jetzt aus unterschiedlichen Gründen nicht weiter zur Verfügung stehen. Das Duo hat sich fleißig bei den Jusos bedient, dem Parteinachwuchs unter Führung von Kevin Kühnert. Ohne die Unterstützung der Jungsozialisten und deren Kontakte wären Esken und Walter-Borjans gar nicht angetreten. Wie sich zeigte, ging die Zusammenarbeit weit darüber hinaus, dass Kühnert eine Wahlempfehlung aussprach und einen Vorstandsbeschluss zugunsten des Duos herbeiführte.

Die Kampagne für Esken und Walter-Borjans organisierte Veith Lemmen, 35 Jahre alt, früher Juso-Landeschef und heute Vize der NRW-SPD, aus der auch Walter-Borjans stammt. Er gilt als umsichtiger Stratege und ehrgeizig, wenn er sich Ziele gesetzt hat. Er trägt immer einen Hut, das ist sein Erkennungsmerkmal.

Sein Ziel lautete, Esken und Walter-Borjans mindestens in die Schlussrunde für die Vorsitzwahl zu bringen. Vergangene Woche zog er dann sogar als Helfer mit den Gewinnern ins Willy-Brandt-Haus ein, half, den Parteitag auf die neue Spitze zuzuschneiden, Papiere und Anträge zu bearbeiten. Beim Parteiabend im Palais am Funkturm sitzt er ganz selbstverständlich neben den Vorsitzenden am Tisch. Aber Lemmen wird nicht in Berlin bleiben. Er bewirbt sich um das Bürgermeisteramt in der Stadt Werther in Nordrhein-Westfalen. Er wolle das von ganzem Herzen, hatte er den Genossen dort gesagt.

Der bisherige Sprecher von Esken und Walter-Borjans, ein Juso aus Nordrhein-Westfalen, hat sein Studium noch nicht beendet. Er will auch nicht mit nach Berlin. Saskia Esken bekommt im Moment Unterstützung von einem früheren Büroleiter, der heute bei der Landtagsfraktion der SPD in NRW beschäftigt ist. In "seiner Freizeit", wie er sagt, sei er nun "helfende Hand." Wie lange, das könne er nicht sagen. So improvisiert die neue Spitze.

Lange geht das sicher so nicht gut: Die nächsten Tage und Wochen dürften entscheidend sein für die Zukunft der Koalition. Als sicher gilt, dass sich die neue Spitze schon in den nächsten Tagen zu einem Kennenlernen mit der Union trifft. Dann muss geklärt werden, in welcher Form und wie lange Gespräche über neue Vorhaben der Koalition geführt werden sollen.

"Wir haben Gesprächsbereitschaft signalisiert bekommen, wir haben Glückwünsche erhalten aus den verschiedensten Richtungen", sagt Saskia Esken am Rande des Parteitags. Ihr Stellvertreter, Kevin Kühnert, wird konkreter: Ihm sei wichtig, dass die Gespräche einen klar definierten Anfang und ein Ende haben." Es dürften keine neuen Koalitionsverhandlungen werden. Esken und Walter-Borjans weigerten sich bislang, über Fristen zu sprechen.

Es geht schon los an der Spitze der SPD - die einen sagen so, die anderen so.

© SZ vom 09.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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