Paris in Flammen:Ein brennendes Gefühl von Macht

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Nacht für Nacht entlädt sich die Wut junger Einwanderersöhne, die fremd sind im Land ihrer Geburt - und Politiker weisen einander die Schuld zu.

Gerd Kröncke

Es brennt und brennt und brennt immer wieder. Ein Team von France Télévision war in der Nacht zum Donnerstag mitten drin, als in Aulnay-sous-Bois die Autos in Flammen aufgingen. Die Journalisten mussten ihr Fahrzeug verlassen, konnten nur aus halbwegs sicherer Entfernung filmen, wie eine Bande von Jugendlichen das Auto erst mit Steinen traktierte, dann darauf herumtrampelte, als sie im Kofferraum nichts gefunden hatten, es auf den Rücken warfen und anzündeten. Es gibt Orte, an denen es gefährlich ist, als Journalist identifiziert zu werden.

Die Unruhen in der Pariser banlieue dauern schon eine Woche, und es wird immer dramatischer. Premierminister Dominique de Villepin ist nicht wie geplant nach Toronto geflogen, Innenminister Nicolas Sarkozy, der nach Pakistan reisen wollte, ist zu Hause geblieben. Stattdessen treffen sie sich zu Krisensitzungen, um eine Staatskrise abzuwenden. Die Menschen in den Vorstädten erleben schon jetzt den Ausnahmezustand. Villepin versucht nicht, die Lage zu beschönigen: "Ladenbesitzer werden angegriffen, Kinder trauen sich nicht aus dem Haus, Mütter wagen es nicht mehr, zur Arbeit zu gehen", schilderte er vor dem Parlament die Lage in über einem Dutzend Kommunen im Nordosten von Paris.

Erst haben die Müllcontainer gebrannt, dann einzelne Autos, inzwischen sind es Hunderte. Jede Nacht wird schlimmer. Die Brandstifter verschonen Kindergärten nicht mehr, vor einer halb zerstörten Schule standen am Donnerstag in Aulnay-sous-Bois fassungslose Mütter, manche weinten. Die ersten scharfen Schüsse, vier insgesamt, aus dem Hinterhalt von Hochhausetagen sind gefallen. Irgendwann kann es Tote geben. Der Staat ist in der Defensive.

Ein gefährlicher Reflex

Man vergisst fast, wie es angefangen hat. Da war der traurige Tod zweier Jungen, unfassbar für die Familien, ein Unfall, soviel man weiß. Doch war es der Funken, der den Flächenbrand auslöste. Ein alltäglicher Vorgang: Ein paar Jugendliche, Banou und Ziad und Metin und ihre Freunde, hatten Fußball gespielt und waren auf dem Heimweg. Ungeklärt ist, ob sie auf einer Baustelle nach Brauchbarem suchten. Jedenfalls wurden sie, eher routinemäßig, von einer Polizeistreife angehalten, Ausweiskontrolle. Aber, wie das so ist, in manchen Gegenden gibt es einen Reflex: Mit der Polizei will man nichts zu tun haben und rennt weg. Das war um halb sechs am Donnerstag voriger Woche. "Wir sind gerannt und gerannt, und ich wusste eigentlich gar nicht mehr, warum ich gerannt bin", hat Metin später gesagt. Da lag er im Krankenhaus, Banou und Ziad konnten nichts mehr sagen, sie waren tot.

Die Version, dass die drei von Polizisten verfolgt wurden, lässt sich nicht belegen. Um sechs waren ihre Freunde auf dem Kommissariat vernommen worden. Zwölf Minuten später gab es eine Störung in der Zentrale der Elektrizitätsgesellschaft. Da wusste man noch nicht, dass Banou, Ziad und Metin über die hohe Mauer der Trafo-Station geklettert waren. Es gibt Schilder, die auf "Lebensgefahr" hinweisen, aber die haben sie in ihrer Panik nicht wahrgenommen. Banou und Ziad sind von 20000 Volt getötet worden. Metin, schwer verletzt, ist davon gekommen, war, noch ehe die Feuerwehr eintraf, zurückgeklettert und hatte sich nach Hause geschleppt.

Die Nachricht vom Tod der 15- und 17-Jährigen, einer von malischen und einer von tunesischen Eltern, hatte sich so schnell unter der Jugend der Sozialbau-Siedlung Chêne-Pointu, einem Viertel von Clichy-sous-Bois, rasant verbreitet. Man lebt auf der Straße, was soll man zu Hause, die Wohnungen sind eng, und die Familien sind groß. Es war noch Ramadan, der moslemische Fastenmonat, und wenn es dunkel wird, treffen sich die Jungen - Mädchen sind nicht zu sehen. Um zehn nach sieben hatten die Rettungsmannschaften die Leichen der Jungen geborgen, um acht hatten sich schon Menschenmengen auf den zentralen Plätzen von Clichy und Chêne-Pointu zusammengefunden. Eine Stunde später brannten die ersten Autos. Der Aufstand der Jungen, die fremd sind im Land, in dem sie geboren sind, findet bei Dunkelheit statt.

Alarmzeichen gab es schon früher. Als der Innenminister, der in der Regierung den Mann mit der eisernen Faust spielt, eines Nachts vor zwei Wochen mit seinem Gefolge in La Dalle, einem Brennpunkt von Argenteuil, auftauchte, flogen aus einer Horde von 200Jugendlichen Steine. Der Minister konterte: "Racaille", sind sie für ihn, "Gesindel". Die Folgen bekam sein UMP-Parteifreund, der Bürgermeister von Argenteuil, Georges Mothron, zu spüren. Während einer Diskussion über die Zukunft des Viertels hatte der durchaus populäre Bürgermeister den Dienst-Peugeot vor dem Tagungsort geparkt. Mothron, ein Mann, der sich aufreibt für seine Gemeinde, stand, als er rauskam, vor dem Wrack seines ausgebrannten Autos. Drum herum ein Dutzend junger Leute, die feixten, und aus ihren Bemerkungen erfuhr er den Grund. "Sarkozy", sagten sie nur, es sei nicht persönlich.

Viele Jungen sehen diesen Staat als Feind, und jeder Polizist ist ein Agent des Feindes. Die vorige Regierung des Sozialisten Lionel Jospin hatte den Versuch unternommen, die Atmosphäre zu ändern, und ein linker Innenminister hatte die "Polizei der Nachbarschaft" ins Leben gerufen. Die Idee war, dass Polizisten sich im Viertel zeigten, weil der, den man kennt, als Mensch akzeptiert wird. Die Kriminalitätsrate ging nicht zurück, aber das Klima weniger angespannt.

"Wie Tiere oder Pestkranke"

Das war vorbei, als Sarkozy antrat. "Die Polizei ist nicht dazu da, Sportveranstaltungen zu organisieren, sondern Straftäter festzunehmen. Sie sind keine Sozialarbeiter", beschied er die Polizisten. Sozialarbeiter sind ohnehin nie gut auf diesen Minister zu sprechen gewesen. "Er versteht von der Verbrechensverhütung so viel wie BenediktXVI. von Präservativen", sagt André Decroix, Vorsitzender einer Association Europe-Afrique. Selbst unter Sarkozys Parteifreunden gestehen einige anonym ein, dass sie ihn nur ungern in ihrer Gemeinde sehen. Man hört sie förmlich stöhnen: "Hoffentlich kommt er nicht zu uns." Sie sähen lieber den jungen Azouz Begag, einen Junior-Minister moslemischen Glaubens, der sich öffentlich gegen die Parolen des mächtigen Innenministers gestellt hat.

Der weiß, wie es ist, wenn man eine "Araberfresse" hat, "une gueule d'Arabe", welche Diskriminierung man erfährt, weil man aus einem Ghetto stammt, weil er selbst in einem aufwuchs. Als Sarkozy tönte, die Quartiere "säubern" zu wollen, hielt Begag dagegen: Er putze seine Schuhe und sein Auto, und nicht eine Siedlung mit 4000Menschen. Andererseits klagt auch er über die Versäumnisse sozialistischer Vorgänger. "Wo ist ,la France black-blanc-beur', das sie uns versprochen haben?", fragt er, was für schwarz, weiß und maghrebinisch steht. "Von Mitterrand bis Jospin war alles ein großes Blabla, überzuckert mit etwas SOS-Rassismus. Heute zahlen wir für zwei Jahrzehnte Nichtstun." Es haben in dieser Zeit aber auch die Bürgerlichen regiert.

Auf der politischen Bühne gibt einer dem anderen die Schuld, so kaschieren sie ihre Hilflosigkeit. Der Sozialist Claude Bartolone, Abgeordneter des Départements Seine-Saint-Denis, in dem die meisten Brennpunkte liegen, klagt in Richtung Chirac und dessen Regierung, dass "man" die Einwohner der banlieues "wie Tiere oder wie Pestkranke ansieht". Damit riskiere man, dass sich ein isolierter "Patriotismus der Siedlungen" herausbildet. Seltsam still ist dieser Tage der rechtsextreme Führer der Nationalen Front. Jean-Marie Le Pen braucht nichts zu sagen, jede weitere Nacht bringt ihm zusätzliche Stimmen. Sarkozy, der immer auch die Klientel rechts außen im Blick behält, hat mit seinen Hau-drauf-Parolen vor allem erreicht, dass die Rivalität unter den Jugendbanden der Vorstädte zunächst vergessen ist. Die Wut auf den gemeinsamen Gegner, der nicht greifbar ist, entlädt sich jede Nacht in blindem Hass.

Das hat etwas Spukhaftes, weil die Angreifer den Ordnungskräften voraus haben, dass sie sich auf heimischem Boden bewegen, so schnell verschwinden können, wie sie aufgetaucht sind, oder gar nicht erst zu sehen sind. Eben noch Kämpfer ohne jede Regel, im nächsten Augenblick normaler Nichtstuer. Endlich mal selbst bestimmen, was passiert. Wer keine Chancen hat, keine Arbeit und keine Hoffnung, fühlt in den Tagen des Aufruhrs plötzlich so etwas wie Macht. Wer als junger Maghrebiner, auch mit französischem Pass, mehrmals am Tag kontrolliert wird, kann nun mit Gewalt selbst etwas kontrollieren.

Man darf ihnen als Bürger nicht zu nahe kommen. Wenn zum Beispiel ein Amateur zufällig seine Kamera auf einen Bus vor dem Bahnhof von Aulnay-sous-Bois hält, tut er gut daran, im Hintergrund zu bleiben. Aus dem Nichts tauchen ein paar Gestalten auf. Man sieht, wie sie Steine gegen die Frontscheibe werfen. Die nächste Einstellung zeigt den ausgebrannten Bus. Die Feuerwehr kann nur noch ein Wrack löschen, wieder ist ein Stück Volksvermögen verbrannt.

So gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte Vorfälle, die jeder für sich gefährlich, und wenn alles unglücklich läuft, tödlich sein könnten. Wie dieser Tage in Clichy-sous-Bois: Vor der Feuerwehr-Wache, einem Gebäude, das eingerahmt zwischen den riesigen Wohnblöcken fast winzig wirkt, hat sich eine Gruppe von Gendarmen postiert, um die Kollegen von der Wehr zu schützen. Plötzlich fliegen Dutzende Steine aus dem Nichts. Es ist so dunkel, dass nicht einmal auszumachen ist, woher der Angriff kommt. Die Gendarmen wehren sich, so gut es geht, feuern ebenfalls ins Nichts, ins Ungefähre, mit ihren Tränengasgewehren.

Es ist schwer für die Beamten, halbwegs kühlen Kopf zu bewahren, und die in vorderster Linie sind meist kaum älter als die, die sie davon abhalten sollen, Bambule zu machen. Es hat, zum Glück, noch keine Schwerverletzten gegeben. Wenn scharfe Schüsse fallen oder aus den oberen Etagen schwere Boule-Kugeln oder Molotow-Cocktails geschleudert werden, erscheint inzwischen alles möglich. Wenn man sie aber aus der Nähe sieht, wenn die Jungens nicht ihre Gruppe um sich haben, sind sie sprachlose, traurige Gestalten wie immer.

In der Kampfkluft

So wie die vier jungen Männer, die, von den Kumpels isoliert, ängstlich oder dumpf vor sich hinschauen und darauf warten, abtransportiert zu werden. Man werde nur die Personalien überprüfen, keiner werde in Haft festgehalten. Selbst den lassen sie laufen, dessen Hände noch nach Benzin stinken, und der wahrscheinlich eine Brandflasche geworfen hat. Man möchte nicht tauschen, nicht mit denen in Uniform und mit denen, die da wohnen, schon gar nicht.

Unerträglich deprimierend sei es in diesen Tagen, sagen Nathalie und Christophe, die in einem dieser tristen Hochhäuser leben. "Wir haben so die Schnauze voll, es reicht, es ist genug." Sie verstünden wohl die Wut der Jungen, aber wem um Gottes Willen nütze es, Autos anzuzünden. Der öffentliche Nahverkehr sei miserabel, aber warum dann Busse abfackeln? Wenn ein Auto brennt, werden die Flammen immer glühender, immer weißer. Meist kommt die Feuerwehr zu spät, und dann ist wieder jemand noch ärmer, als er schon war. Oft gibt es Publikum. Interessiert schauen ein paar Jungen in ihrer Kampfkluft zu, Kapuzenjacken, in denen man sich halb verstecken kann. Unter ihnen die Brandstifter, die sich an ihrer leuchtenden Tat erfreuen.

Die Gewalt ist stets gegenwärtig, auch in normalen Zeiten richtet sie sich gegen den, der anders ist, nicht dazu gehört. Im selben Département gab es zu der Zeit, als die Jungen in Clichy starben, ein Opfer, von dem nun nicht mehr die Rede ist. In Epinay-sur-Seine wurde ein 46-jähriger Familienvater umgebracht. Er hatte Bilder von Straßenlaternen gemacht, die er für seine Firma aufstellen ließ und wollte seine gelungene Arbeit dokumentieren. Vor den Augen seiner Frau und seiner Tochter wurde er von drei jungen Männern niedergeschlagen, weil er seine Kamera nicht hergeben wollte. Er wehrte sich, wollte fliehen und wurde getreten, bis er sich nicht mehr rührte. Ihr Opfer ist nicht mehr aufgewacht.

Die Täter wurden tags darauf festgenommen, weil ein Überwachungskamera alles festgehalten hatte. Es war ein Ort, an dem Drogen gehandelt werden. Der Mann, der dafür gearbeitet hat, den Ort ein wenig schöner zu machen, war stolz gewesen auf sein bescheidenes Werk.

In Aulnay, in Bobigny, in Livry-Gargan und wer weiß, wo demnächst noch, richtet man sich auf ein heißes Wochenende ein. Pessimisten fürchten, dass der Höhepunkt noch bevor steht. In Aulnay haben Vermummte erklärt, dass sie weiter machten, bis der Tod der beiden von Opfer von Clichy geklärt sei. Und einer wird von Le Monde mit der Drohung zitiert: "Das ist alles nur der Anfang. Wir machen weiter, bis Sarkozy zurücktritt."

© SZ vom 4. November 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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