Odenwaldschule:Opfer sollen schnell Geld bekommen

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Der Opferverein hat auf den Abschlussbericht zu den Jahrzehnte andauernden sexuellen Übergriffen an Odenwaldschülern reagiert. Er drängt auf eine möglichst schnelle Auszahlung von Entschädigungsgeldern.

Tanjev Schultz

Der Opferverein "Glasbrechen" appelliert an die Odenwaldschule, "schnellstmöglich" eine Entschädigung für die sexuellen Übergriffe von Lehrern zu leisten. Das Vertrauen in die Institutionen des privaten Internats sei geschwunden. "Die Rettung der Schule ist nicht unser primäres Ziel, wie auch die Zerstörung der Schule nicht unser Ziel sein kann", heißt es in einer Mitteilung, mit der der Verein auf den jetzt vorgestellten Abschlussbericht über die sexuelle Ausbeutung von Schülern reagierte.

Die Odenwaldschule in Heppenheim: Der Opferverein "Glasbrechen" hat auf den jetzt vorgestellten Abschlussbericht über die sexuelle Ausbeutung von Schülern reagiert. (Foto: dpa)

Laut dem Bericht waren mindestens 132 Schüler sexuellen Übergriffen ausgesetzt, bis hin zur schweren Vergewaltigung. Die meisten Opfer waren Jungen (115), betroffen waren aber auch Mädchen (17). Die Taten seien zwischen 1965 und 1990 erfolgt und strafrechtlich verjährt; je einen Fall habe es 1998 sowie 2003 gegeben.

Der Bericht wurde im Auftrag der neuen Schulleitung von der Wiesbadener Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller und der ehemaligen Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt, Brigitte Tilmann, erstellt. Sie betonen, es gebe ein "Dunkelfeld"; man müsse davon ausgehen, dass sich viele Betroffene noch gar nicht gemeldet hätten. Außerdem könnten elf Suizide im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch stehen.

Hauptbeschuldigter entschuldigte sich bei Opfern kurz vor seinem Tod

Die meisten Missbrauchsopfer waren laut dem Bericht zur Zeit der ersten Tat erst 14 Jahre alt oder jünger. Ein Siebenjähriger und mehrere Zehn- und Elfjährige werden genannt. Oft sei der Missbrauch über längere Zeit fortgeführt worden. Eltern, denen die Kinder Andeutungen gemacht hätten, reagierten ungläubig oder abwiegelnd. Einem 13-Jährigen habe der Vater gesagt, er solle sich nicht so anstellen; er habe offenbar Vorurteile gegenüber Homosexuellen.

Das Verhalten der Schulleiter wird in dem Bericht mit dem Begriff "Versagen" beschrieben. Demnach hat bereits der Rektor Walter Schäfer in seiner Amtszeit von 1962 bis 1972 nicht entschieden reagiert und einen beschuldigten Lehrer einfach gewähren lassen. Vorwürfe, den Missbrauch nicht aufgeklärt zu haben, richtet der Bericht außerdem gegen die ehemaligen Schulleiter Wolfgang Harder und Whitney Sterling.

Als Täter identifiziert der Bericht sieben Lehrer und eine Lehrerin. Haupttäter sei Gerold Becker gewesen, der die Odenwaldschule von 1972 bis 1985 leitete. Die Juristinnen bezeichnen ihn als "narzisstischen Pädosexuellen", dessen Interesse vornehmlich auf Kinder gerichtet gewesen sei, die noch nicht geschlechtsreif waren.

Mindestens 86 Schüler seien von sexuellen Übergriffen Beckers betroffen gewesen. Nachdem bereits 1999 Vorwürfe gegen Becker in einem Artikel der Frankfurter Rundschau öffentlich wurden, hatte dieser dazu geschwiegen. Becker starb im Juli 2010. Kurz zuvor hatte er sich in allgemeiner Form bei den Schülern entschuldigt, ohne auf konkrete Vorwürfe einzugehen.

Konflikt um Strategie: "aussitzen"

Beckers langjähriger Freund ist der berühmte Pädagoge Hartmut von Hentig. Dieser hat, wie die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung berichtet, den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule "aussitzen" wollen. In einem Brief an den Sohn eines Weggefährten habe Hentig im Mai 2010 geschrieben: "Meine (nicht leicht einzuhaltende) Strategie: aussitzen." In vier Jahren könne man dann "in Ruhe auf all dies zurückblicken und 'lernen' - oder wir haben einen neuen Fundamentalismus, der auch die letzten Regungen der Aufklärung beseitigt".

Der um Aufklärung bemühten derzeitigen Leiterin der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim, Margarita Kaufmann, warf Hentig in dem Brief "Schädlichkeit für die Schule, für die Pädagogik, für die Sache der Opfer" vor. In einem anderen Brief, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schrieb Hentig Ende April 2010, er müsse sich zurückziehen und hoffen, "dass das alles in vier oder fünf Jahren vergessen ist".

© SZ vom 20.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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