1968:Nostalgie und Realität

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Warum es gut ist, an das Jahr 1968 zu erinnern, sich aber dennoch nicht jeder darauf berufen sollte. Wichtig ist, zu verstehen - und zu bewahren, was heute noch sinnvoll ist.

Daniel Cohn-Bendit

Jean Baudrillard sagte mir am 22. März 1968: "Dany, was du geschafft hast, ist außergewöhnlich. Aber lass' dich nicht von diesen linksextremen Kräften manipulieren, die dich nur dazu bringen werden, jetzt alles zu zerstören, was einmal aus dem entstehen kann, das ihr gerade erschafft." Diese Worte haben auch 40 Jahre später noch ihre Richtigkeit.

Daniel Cohn-Bendit, Abgeordneter der französischen Grünen im EU-Parlament. (Foto: Foto: AFP)

Auf die Gefahr hin, Fans und diejenigen zu enttäuschen, die "die" Revolution lockt: Ich bin nicht der Anführer einer "Revolution" von 1968. Schlimmer noch: Forget it! 1968 ist vorbei! Es ist begraben unter Pflastersteinen, selbst wenn diese Pflastersteine Geschichte geschrieben und zu einem radikalen Wandel in unserer Gesellschaft geführt haben. 1968 setzte den revolutionären Mythen ein Ende - zugunsten neuer Befreiungsbewegungen, die sich von den siebziger Jahren bis heute fortgesetzt haben.

Die Welt der sechziger Jahre - die Zeit der ersten Bewegung von globaler Tragweite, die live in Radio und Fernsehen übertragen wurde - war bestimmt durch eine Fülle miteinander verbundener Revolten. Der Wandel ergriff vor allem die traditionelle Kultur, den Einfluss des Moralismus und die gesellschaftliche Hierarchie. Er berührte das gesamte Leben, die Art zu sein, zu sprechen, zu lieben und vieles mehr. Ungeachtet ihres Ausmaßes hat sich die Bewegung von Gewalt ferngehalten und eine neue Art der Rebellion erschaffen. Gewalt war nicht zeitgemäß. Studenten, Arbeiter und Familien hatten jeweils ihre eigenen Forderungen, aber alle stimmten in dem gemeinsamen Wunsch nach Emanzipation überein.

Stereotype Interpretationsmuster auf beiden Seiten

Die Revolte bot die Möglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen, aber sie war nicht darauf ausgerichtet, die politische Macht zu ergreifen. Vielmehr machte ihr Wesen sie "politisch unübersetzbar". Es war der Wunsch nach Freiheit, der die Bewegung trug.

In Frankreich war der Konservatismus sowohl bei den Rechten als auch bei den Linken so tief verwurzelt, dass beide Seiten den Sinn der Bewegung missverstanden und sich in stereotypen Interpretationsmustern ergingen. Was die Anarchisten anbelangt, war ihre Utopie von einer flächendeckenden Selbstverwaltung nach dem Modell altmodischer historischer Vorbilder ebenfalls völlig unangemessen. Wir wiederum waren geprägt von einer tiefen Ablehnung der politischen Institutionen und des Parlamentarismus und lernten erst nach und nach, dass die demokratische Herausforderung darin besteht, einen "normalisierten" politischen Raum zu besetzen.

In der Konfrontation mit den Anarchisten und ihrem einengenden politischen Vokabular - das sich in dem Wahlspruch "élections, piège à cons" (Wahlen, eine Falle für Idioten) zeigte - und dazu noch in der Konfrontation mit der Kommunistischen Partei, deren revolutionäre Ideale totalitären Gesellschaftsmodellen gleichkamen, konnte es nach dem Mai 1968 nur einen Rechtsrutsch geben. Und so geschah es mit de Gaulles Wahlsieg.

Die politische Niederlage war nicht zu leugnen. Genauso wenig aber ließ sich das Erdbeben leugnen, das unsere vorsintflutlichen Vorstellungen von Gesellschaft, Moral und Staat durcheinanderschüttelte. Indem sie die Autoritäten angriff, griff die Revolte die typisch französische Machtverteilung an: Diese kombinierte ja den dominierenden Gaullismus mit der Kommunistischen Partei, die sich um die Arbeiterklasse kümmerte.

Die Radikalität der Umwälzungen ermöglichte eine neue Lust am Leben. Mit jeder neuen Generation entsteht eine neue politische Vorstellungskraft, entstehen neue Losungen, die auf Mauern geschrieben werden. In gewisser Weise ist das surrealistische Wesen der Revolte auf dem berühmten Foto von Gilles Caron festgehalten: Es zeigt ein unverschämtes Lächeln, das dem Polizisten eines Sondereinsatzkommandos entgegengebracht wird; eine Geste, welche die festgefahrene, etablierte Ordnung ins Lächerliche stürzt.

Die Welt von heute ist eine andere

Ganz offensichtlich haben es manche nie geschafft, die Ekstase dieser fünf Wochen voller Verrücktheit und Fröhlichkeit hinter sich zu lassen. Andere warten noch immer darauf, dass '68 in irgendeinem großen Ereignis gipfelt. Für meinen Teil aber habe ich seit langer Zeit und ohne Nostalgie das "Prinzip der Realität" anerkannt, ohne dabei die Bedeutung der Ereignisse kleinzureden. Denn 1968 war wohl eine Revolte, die zwei Epochen miteinander verbindet. Sie hat den Panzer des Konservatismus aufgebrochen und den Wünschen nach Autonomie und Freiheit einen Ausdruck geben können. In kultureller Hinsicht haben wir gewonnen.

Sollen wir also 1968 wirklich neu betrachten? Ja - aber nur um es zu verstehen, um seine Tragweite zu erfassen und um davon zu bewahren, was heute noch sinnvoll ist. Zum Beispiel könnten wir uns daran erinnern, dass damals, 23 Jahre nach Kriegsende, ein vielfarbiges Frankreich mit den Worten "Wir alle sind deutsche Juden" gegen meine Ausweisung demonstriert hat. Aber auch das rechtfertigt keinen hastigen Vergleich und noch weniger eine Gleichsetzung der kleinsten widerständischen Zuckung mit den Ereignissen von 1968.

Die Welt ist eine andere geworden. Der Kalte Krieg ist Geschichte, Fabriken und Schulen werden nicht mehr wie Kasernen geführt, Homosexualität wird nicht mehr als Schande betrachtet. Frauen müssen ihre Männer nicht mehr um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten und ein Konto eröffnen wollen. Diese Welt wurde abgelöst von einer multilateralen Welt, zu der auch Aids und Arbeitslosigkeit gehören, Energiekrisen und Klimaprobleme. Überlassen wir es also den neuen Generationen, ihre eigenen Schlachten zu schlagen und ihre eigenen Wünsche zu definieren.

1968 zu entmystifizieren, bedeutet auch, den Betrug derer zu demaskieren, die dieses Jahr mit allen Übeln der Welt gleichsetzen wollen. Weil sie "Es ist verboten zu verbieten"auf Mauern geschrieben hat, macht man die Generation der 68er verantwortlich für die Gewalt in den Vorstädten, für den wachsenden Individualismus, für die Krise des Bildungswesens - und, wo wir schon dabei sind, warum nicht auch noch für die Erderwärmung! Einige Menschen hoffen wohl, sich so davor drücken zu können, sich den Problemen von heute zu stellen. Das aber ist doch nichts anderes als ein politischer Trick, mit dem die gewandelten politischen Strukturen sabotiert werden sollen und mit der jede sachliche Debatte beendet wird.

Daniel Cohn-Bendit ist Abgeordneter der französischen Grünen im Europäischen Parlament. In den sechziger Jahren galt er als Anführer der Pariser Mai-Revolution.

© SZ vom 21.05.2008/dgr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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