Nordkorea:"Hier gibt es keine positive Energie"

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In Nordkorea warten die Menschen verzweifelt auf den Wandel: Bislang müssen sie unwissend und isoliert leben - auch wenn die Grenze im Süden dem Kapitalismus erste Schlupflöcher bietet.

Eine Reportage von Stefan Kornelius, Pjöngjang

Dieser Zaun wird nichts zurückhalten, keinen Menschen, keine Maschine und erst recht keine Idee. Einfacher Maschendraht, grün eingefärbt, mehr als mannshoch, aber nicht besonders stabil.

Der Zaun ist von weitem zu sehen, weshalb man wohl annehmen muss, dass er so etwas wie eine Grenze markieren soll. Eine psychologische Sperre, die aber, wenn man genau hinschaut, schon längst durchbrochen ist.

Kaesong im Südwesten Nordkoreas. Eine der großen Provinzstädte, drei Busstunden von Pjöngjang entfernt, erreichbar von der Hauptstadt aus über die Autobahn, auf der nur gelegentlich ein Fahrzeug zu sehen ist.

Das Meer ist nicht fern, die verminte Grenze zum Süden verläuft in Sichtweite, in den Hügeln liegen wohl die Artilleriestellungen. Die triumphierend hohen Fahnenmasten der beiden Koreas stoßen in den Himmel, auf der Hügelkette am Horizont ist das Friendship-Center der Amerikaner zu sehen.

Aber wer interessiert sich für das Friendship-Center, wenn die gewaltigen Teermaschinen den Weg verstellen, wenn die Dieselabgase der Raupenbagger in die Nase steigen und dann der Zaun zu sehen ist. Ein Uniformierter öffnet die Sperre, achtspurig zieht sich ein Straßennetz durch die Parzellen des Industriegebietes. Die Versorgungsanschlüsse liegen bereits, die Bürgersteige sind dreifarbig gepflastert, demonstrativ eng stehen die Straßenlaternen Spalier. Hier gibt es Strom, hier gibt es Licht.

Durchlässe für Devisen

Suh Ye Talk, der Generalmanager, hat nur Zeit für einen Handschlag. Am Donnerstag werden die südkoreanischen Bewerber für die Parzellen ausgewählt, die nächste Lebensphase im Kaesong-Industriegebiet wird dann beginnen, finanziert vor allem vom Hyundai-Konzern aus Seoul.

Das Interesse der Unternehmen ist hoch, es winken eventuell Profit und garantiert patriotischer Ruhm. Eine Enklave des Turbokapitalismus wächst da fast schon wie ein Geschwür am Unterleib des bitterarmen Agrarstaates. Die im Norden meinen, es sei eine Devisenmaschine, ein willkommenes Geldgeschenk aus dem Süden mit am Ende vielleicht 350.000 Arbeitsplätzen in 2000 Firmen und 20 Milliarden Dollar Umsatz.

Die im Süden sagen: Da entsteht ein Aufmarschplatz für die Waffen des 21. Jahrhunderts, den Kapitalismus, für Wohlstand, für Freiheit, am Ende für den Regimewechsel. Kaesong war bis 1392 die Hauptstadt der Koryo-Dynastie, in der Geschichte Koreas eine der glücklicheren Zeiten. Es gibt Idealisten im Süden, die hoffen, nun werde diese Hauptstadt wieder gebaut, inklusive dreier Golfplätze und eines Vergnügungsparks.

Man kann nicht behaupten, jenseits von Kaesong präsentiere sich dieses Nordkorea wie ein Vergnügungspark. Pjöngjang Anfang Juni, Weltkindertag. Vor einem Wohnblock haben sie ein Karussellpferd aufgestellt, allerdings ohne Karussell. Im Wind flattern vier bunte Girlanden, Männer turnen vor einem Hochhaus an einem Eisenbarren, sieben-, achtjährige Jungs spielen Fußball wie sieben- oder achtjährige Jungs in der ganzen Welt Fußball spielen: im dichten Knäuel um den Ball.

Skurriles Ballett

Routinierte Nordkorea-Reisende und die wenigen Ausländer von den Hilfsorganisationen und den Botschaften erleben die Hauptstadt entspannter als in den Jahren zuvor. Auf den Straßen fahren mehr Autos, was die Verkehrspolizistinnen mit ihren weißen Schirmmützen nach wie vor nicht überfordert. Sie wirbeln auf den Kreuzungen wie Cheerleader - ein skurriles Ballett in taubenblauer Uniform.

Denn Nordkorea läuft. Ein Volk zu Fuß auf dem Marsch: Diszipliniert strömen sie die Bürgersteige auf und ab, die Damen in wadenlangen Röcken, die Männer gelegentlich auf dem Fahrrad. Radfahren ziemt sich nicht für Frauen, Hosen sind ebenfalls nicht erwünscht. Manche bringen sich Hosen mit für die Arbeit und ziehen sich für den Heimweg wieder um.

Man wird sonst angesprochen von Aufpassern auf der Straße. Schmuckstücke sind ein beliebtes Gesprächsthema unter den Frauen, begehrte Errungenschaften, meist aus China ins Land gebracht, werden stolz verglichen. Neben dem Ausländer-Hotel hat ein Devisenladen mit Schweizer Uhren geöffnet, außerdem gibt es seit neuestem Straßenküchen, die kleine Snacks verkaufen.

Die Experten der Hilfsorganisationen haben festgestellt, dass die schlimmsten Jahre zumindest in der immer gut versorgten Hauptstadt vorbei sind. Die nötigsten Lebensmittel gibt es wieder. Private Bauernmärkte erfreuen sich offenbar regen Besuchs.

Während einer Woche ist nicht ein Stromausfall zu bemerken, und aus den Schloten des Kohlekraftwerks mitten in Pjöngjang zieht dicker Rauch. Gleichwohl werden nach zehn Uhr abends die Straßenlaternen gelöscht. Die Stadt taucht ab in die Dunkelheit, nur manchmal zucken gleißende Blitze von maroden Stromabnehmern der Güterzüge in den Himmel.

Rote Fahnen am Feldrand

Es ist Pflanzzeit, und die Regenfälle der vergangenen Wochen haben die Reisfelder gut geflutet. Die vorgezogenen Pflänzchen werden nun gesteckt. Aus Pjöngjang wandern Arbeitseinheiten aufs Land, von den Universitäten, natürlich von den Streitkräften. In langen Reihen stehen junge Soldaten wadentief im Wasser und stecken die Setzlinge in den Boden.

Rote Fahnen am Feldrand und Tafeln mit sozialistischen Losungen sollen sie antreiben. Frauen sicheln oder rupfen mit bloßer Hand Gras und Unkraut von Grünanlagen, in der Stadt sind Hauskaninchen besonders beliebt und müssen gefüttert werden.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen versorgt zur Zeit noch 700.000 Menschen im Land mit Nahrungsmitteln: Mais, Mehl, Bohnen - das Nötigste eben. Die Hilfsorganisation ist nur in 30 von 161 Landkreisen präsent, eine objektive Analyse der Versorgungslage kann sie nicht liefern. Nach ihren Angaben sind die Menschen unterernährt, aber eine Hungersnot wie in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre herrscht nicht mehr. Damals sollen zwischen 500.000 und zwei Millionen Nordkoreaner gestorben sein.

Hilfe darf nicht Hilfe heißen

Im Nordosten allerdings leben die Menschen in ganz erbärmlichen Umständen, Kinder in Waisenhäusern, Kranke in Hospitälern und die Kleinstädter ohne eigene Felder und Grünflächen sind besonders gefährdet.

Die Regierung räumt offiziell ein, dass eine Million Tonnen Nahrungsmittel für die Bevölkerung fehlen. Selbst wenn die ganze Ackerfläche Nordkoreas genutzt würde, könnte sich das Land nicht selbst versorgen. Es braucht Hilfe, aber Hilfe darf nicht mehr Hilfe heißen.

Vor eineinhalb Jahren wies die oberste Führung die Hilfsorganisationen an, das Land zu verlassen oder die Zusammenarbeit von Nothilfe auf Entwicklungsarbeit umzustellen. Das war mehr als das semantische Bedürfnis einer notorisch paranoiden Elite, nicht mehr als Bittsteller in der Welt auftreten zu müssen.

Das Regime wollte mehr, es wollte Anerkennung, denn Entwicklungshilfe verlangt nach Zusammenarbeit, verlangt nach Planung zwischen Regierungen, verlangt nach Investitionen. Entwicklungshilfe wäre das Ende der Isolation gewesen.

Die Organisationen reduzierten zunächst die Arbeit, aber sie verließen das Land nicht. Jetzt wird der Betrieb langsam wieder hochgefahren, weil das Regime merkt, dass es ohne Helfer nicht geht. Entwicklungshilfe will dem Regime niemand leisten, offiziell zumindest, solange sich die Politik im Kreis dreht im ewigen Spiel um die Bombe und die Sanktionen.

Das Regime: Da wäre zum Beispiel Kim Yong Nam, Vorsitzender des Präsidiums der Obersten Volksversammlung, die Nummer zwei im Staat, wenn es denn so etwas gibt in einem totalitären System. Kim empfängt auf dem kreischend bunten Teppich, auf dem auch der "geliebte Führer, der Genosse General Kim Jong Il" seine Gäste zu begrüßen pflegt.

Zu viel Macht ausgestrahlt

Nur: Es kommen keine Gäste mehr nach Pjöngjang, die Kim Jong Il empfangen müsste. Also steht der zweite Mann auf dem Teppich, ein großväterlicher Typ mit fast schon gütigen Gesichtszügen. Kim Yong Nam ist Kampfgefährte des Republikgründers Kim Il Sung. Allein seine Präsenz verleiht dem Sohn, Kim Jong Il, Autorität.

Diesmal stehen außerdem sieben Bundestagsabgeordnete auf dem Teppich, angeführt von dem CSU-Parlamentarier Hartmut Koschyk. Koschyk ist ein Korea-Enthusiast, Nord wie Süd. Er führt die Deutsch-Koreanische Parlamentariergruppe an, und er ist so etwas wie ein Fährtenleser der nordkoreanischen Verhältnisse.

Nach sieben Besuchen in dem Land kann man ein paar Spuren entdecken, zumal wenn man sie mit den Kimologen vor Ort vergleicht - den wenigen Botschaftern der demokratischen Gemeinde, die in ihrem Viertel eingeschlossen sind, allerdings das Land leichter bereisen können als Abgeordnete oder Journalisten, die von Aufpassern fürsorglich begleitet werden.

Zwei Personalien von Belang gibt es aus Pjöngjang jetzt zu vermelden: Der Generalstabschef wurde ausgetauscht, und der Ministerpräsident ist neu. Der alte Generalstabschef habe "Macht ausgestrahlt", heißt es.

Macht darf aber nur ER ausstrahlen, die "Sonne des 21. Jahrhunderts", Kim Jong Il. Dessen erstgeborener Sohn, Jong Nam, strahlte vergleichsweise wenig Macht aus, als er im Linienflugzeug aus Peking als letzter Passagier vor dem Abflug in die erste Reihe huschte.

Anstecker auf dem Herzen

Viel weiß man also nicht über den Diktator in diesen Tagen. Vor wenigen Wochen saß Kim Jong Il während der Arirang-Festspiele, diesem gewaltigen Massenspektakel, auf der Stadiontribüne. Ansonsten fällt den Beobachtern auf, dass sein Bild in der Öffentlichkeit reduziert wird.

Der Personenkult konzentriert sich stärker auf den Vater. Kim Il Sung ist Präsident auf ewig, zwar gestorben am 8. Juli 1994, aber die Verehrung für ihn ist ungebrochen und im Kern möglicherweise echt. Selbst auf dem Land müssen die einfachen Leute sein Bild als Anstecker auf dem Herzen tragen.

Kein Besuch in einer Fabrik oder einem Krankenhaus, ohne dass man ehrfurchtsvoll darauf hingewiesen würde, welche großartige Leistung der Große Führer in diesem Operationssaal oder an jener Verpackungsmaschine vollbracht habe.

All das bedeutet nicht, dass der Sohn, inzwischen nach unterschiedlichen Interpretationen auch schon 65 oder 66 Jahre alt, Macht einbüßt oder gar einem Coup des Militärs erliegen könnte. Der Außenminister mag ihn nicht namentlich erwähnt haben in seinem Gespräch mit den Bundestagsabgeordneten, die Regime-Chargen in Fabriken und Universitäten mögen ihm nicht jedes Mal als persönlichen Weisungsgeber huldigen - am Ende bedeutet all dies: nichts.

Es gibt niemanden außerhalb des Systems, der in Nordkorea die Kulisse durchschaut, die Machtkämpfe im Apparat wahrnimmt, der die Wohnungen besucht, die Familien spricht, der in die Köpfe der Menschen sieht, in die Herzen gar.

Kimjongilia und Kimilsungia

Nordkorea ist ein gespenstisch abgeschottetes Land, das von nahem betrachtet zwar in viele Schicksale zerfällt - das aber keine Gefühle stimuliert. "Hier gibt es keine positive Energie, das Land macht leer", sagt ein Ausländer aus der Kolonie. Den Menschen ist die Seele verloren gegangen, ersetzt von Stanzen des Personenkults, von theatralischem Massenpomp.

Das System Kim, das ist die Synthese aus Orwell, Stalin und Mao. Von außen aber sieht man nur Kafka, eine surreale Inszenierung, ein Traumgebäude aus gefüllten Regalen, Mammographie-Geräten und Computerprogrammierern.

Realität oder Propaganda? Niemand durchdringt die Kulisse. Auf den Propaganda-Tafeln blühen in Bonbonfarben die Kimjongilia und die Kimilsungia, eine Orchidee und eine Begonie.

Zwei Generationen in Isolation und Unwissenheit gehalten, versorgt mit einer ersatzreligiösen Ideologie, pawlowsch auf zwei Figuren an der Spitze trainiert, immer kontrolliert und drangsaliert, bilden den perfekten Schutzpanzer. Für den Rest sorgen die Lager, in denen Menschenrechtsorganisationen zufolge zwischen 150.000 und 200.000 Gefangene gehalten werden.

Aber dann gibt es ja den Zaun von Kaesong. Morgens passieren Arbeiter in blauen Bussen das Tor, wo ihnen auf einer Tafel ein schöner Tag gewünscht wird. Sie nähen Kleidung "made in Korea" und stecken Kabelbäume zusammen. Sie essen in der Kantine zu Mittag.

Kein Mathestudium notwendig

An Weihnachten gab es blaue Fahrräder als Gratifikation. Niemand wird vergessen, wie zu Beginn des Experiments vor zwei Jahren die Arbeiter mit dicker Nudel- und Hühnersuppe aufgepäppelt werden mussten, weil sie vor Entkräftung kaum stehen konnten.

Inzwischen kommen die Fahrzeuge aus dem Süden schon weit auf die andere Seite des Zauns. Die Teermaschinen asphaltieren gerade die Straße Richtung Innenstadt, ein neuer Hyundai-Reispflanzer kreuzt über die Felder. Die nordkoreanischen Behörden hatten verfügt, dass Besucher aus dem Süden ihre Fahrzeuge mit einer orangefarbenen Fahne kenntlich machen müssen.

Anfangs flüchteten die Bewohner, wenn die Autos kamen. Inzwischen hat man sich aneinander gewöhnt, im Ort erzählen die Arbeiter von sauberen Fabriken und der Gesundheitsversorgung. 2500 pendeln heute in die Industriezone. Bald sollen es 70.000, vielleicht mal 350.000 sein. Kaesong hat etwa 200.000 Einwohner, es braucht kein Mathematikstudium, um die Folgen abzuschätzen.

Im Gästehaus essen die Besucher aus dem Süden zu Mittag. Vier Euro kostet das Menü, inklusive Bier. Das ist ungefähr die Summe, die ein Arbeiter in der Fabrik bekäme, wenn er seinen nordkoreanischen Monatslohn zu Devisen machen wollte.

Tatsächlich funktioniert die Rechnung aber so: Der Arbeiter bekommt Devisen, am Ende 43 Dollar. Die Regierung in Pjöngjang tauscht den Lohn zum offiziellen Wechselkurs in nordkoreanische Won, der liegt bei fünf Prozent des tatsächlichen Marktwerts. Der Devisengewinn fließt nach Pjöngjang.

Irgendwann werden sie in Kaesong die Rechnung durchschaut haben. Dass sie was von Geld verstehen, haben sie im Gästehaus gezeigt: Im Speisesaal hängt ein typisch koreanisches Naturgemälde, angefertigt in den siebziger Jahren: Wasserfall, Blüten, Bergkulisse, Romantik. Am Bildrand aber hat der Maler schon damals seine Vorstellung von Glück und Wohlstand geparkt: einen Mercedes.

© SZ vom 4.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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