Neue Konzertsäle:Klassik für alle

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Den Orcherstern muss es gelingen, bisher ausgegrenzte Gruppen in die Konzerte zu holen. Das Publikum muss jünger, bunter und vielfältiger werden.

Von REINHARD BREMBECK

Die Leidenschaft für klassische Musik ist in Deutschland wahrscheinlich stärker ausgeprägt als irgendwo sonst auf der Welt, besonders die Leidenschaft für Konzerte. Zwar gehen seit der Jahrtausendwende hierzulande weniger Menschen in die Oper, gleichzeitig aber ist die Zahl der Konzertbesucher stark gestiegen, auf derzeit 5,36 Millionen pro Jahr - und dies trotz Orchesterschließungen und Sparpolitik.

In zunehmend konservativen Zeiten weckt der liberale Bekenntniseifer vieler Theater bei manchen Zuschauern Misstrauen, sie suchen daher Zuflucht in der Musik. Zudem werden klassische Konzerte nach allen Regeln der Kunst vermarktet; und verglichen mit manchmal dreistelligen Preisen für Opernkarten sind sie das erschwinglichere Vergnügen. Und schließlich locken in vielen Kommunen neue Konzerthäuser, allein im nächsten halben Jahr werden vier weitere Säle eröffnet.

Den Auftakt macht an diesem Freitag Bochum. Ende Januar folgt nach vielen Bau- und Finanzskandalen die Hamburger Elbphilharmonie, lang erwartet, kostensprengend, für die deutsche Klassiklandschaft ganz sicher ein neues Gravitationszentrum. Kurz danach wird der von dem Dirigenten Daniel Barenboim initiierte Boulez-Saal in Berlin eröffnet; das Schlusslicht macht schließlich die Dresdner Philharmonie. München, das sich nach langem Zögern unlängst entschlossen hat, einen neuen Konzertsaal zu bauen, wird diese Saaleröffnungen mit größter Aufmerksamkeit verfolgen.

Das Orchester-Publikum muss bunter und vielfältiger werden

Nun ist es nicht so, als wäre Deutschland ein gänzlich sorgenfreies Land: Die Welt ist aus den Fugen, auch hierzulande fehlt vielen Menschen das Notwendigste, der Staat könnte sein Geld im Kampf gegen Kinder- und Altersarmut ausgeben, für Krippenplätze und Flüchtlinge. Und doch investiert das Land viele Millionen in die neuen Konzertsäle, sogar einer finanziell bedrängten Kommune wie Bochum sind Klassik und Kultur diese Anstrengung wert.

Es ist unfair, soziale Missstände gegen die Kultur auszuspielen, und ganz schädlich wäre es, die öffentliche Förderung von Opern oder Theatern rundheraus infrage zu stellen. Eine Debatte über die neuen Konzertsäle müsste dies aber gar nicht, denn soziale wie kulturelle Anliegen speisen sich aus ein und demselben Bürgersinn, der beides will: ins Konzert gehen und niemanden hungern lassen.

Es ist eine Haltung, die aus einem Humanismus rührt, der die freiheitlich-brüderlichen Ideale der Aufklärung mit dem Kulturverständnis des Feudalismus und der Kirche in Übereinstimmung bringt. Ohne diese Haltung würde es wohl weder diese vier noch irgendwelche weiteren Konzertsäle geben. Denn um die neuen Säle wurde oft hart gerungen, finanziell, ideell, künstlerisch, und sie entstehen auch dank privaten Engagements. Keines der neuen Häuser dürfte am Bedarf vorbei geplant sein und demnächst leer stehen, alle vier Städte haben eigene Ensembles, die, so es mit den kommunalen Finanzen nicht ganz bergab geht, ihre neuen Spielstätten nutzen werden.

Das Gros der heute gespielten klassischen Musik wurde fast immer vor langer Zeit komponiert. Sie entstammt ganz anderen, undemokratischen Gesellschaften, fasziniert aber seltsamerweise ein zunehmend größeres Publikum. Offenbar orchestrierten Bach, Beethoven und Schumann ein Weltbild, das dem ihrer Zeitgenossen weit voraus war und heute als erstrebenswerter Lebensentwurf verstanden wird. Schillers schlichtes "Alle Menschen werden Brüder" haben diese Komponisten sehr viel raffinierter als der Dichter eingelöst, ihre Musik propagiert ein Miteinander jenseits der Hierarchien, verhandelt heutige Wünsche, Sorgen, Bedürfnisse.

Wer allerdings in den Konzertsälen dieses Miteinander aller gesellschaftlicher Gruppen erwartet, wird enttäuscht. Dort versammelt sich ein gebildetes, zahlungskräftiges, alt und älter werdendes Publikum. Gelegenheitskonzertgänger sind selten, es dominieren die Aficionados. Diese von ihrer Musikleidenschaft begeisterten Menschen füllen zwar die Säle, sie repräsentieren aber nur einen kleinen Teil der Gesellschaft.

Für die Orchester ergibt sich daraus eine Aufgabe, die weit größer ist als ein Konzertsaalbau. Sie müssen nicht nur den Nachwuchs in ihre Konzerte holen, sondern vor allem auch bisher ausgegrenzte Gruppen. Das Publikum muss bunter und vielfältiger werden, wenn die Klassik auch weiterhin eine relevante Rolle spielen soll und nicht nur eine zunehmend kleiner werdende Schicht erfreuen will. Das wird nicht allen gefallen. Aber die öffentlichen Subventionen werden diese Öffnung ganz von selbst nach sich ziehen.

© SZ vom 26.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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