Neue Gesundheitsinitiative:Bildung als Gegengewicht

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Verbraucherschutzministerin Künast stellt in Berlin die Gesundheitsinitiative "Ernährung und Bewegung" vor. Doch Aufklärung allein reicht nicht aus, um auch sozial schwache Kinder schlanker zu machen.

Von Klaus Koch

Es kommt nicht oft vor, dass Politiker öffentlich ihr Scheitern einräumen. Verbraucherschutzministerin Renate Künast aber tat es im Juni sogar in einer Regierungserklärung: Deutschlands Kinder seien zu dick, gab die auch für Landwirtschaft und Ernährung zuständige Ministerin vor dem Bundestag zu.

Und trug dabei im wahrsten Sinne des Wortes dick auf: Inzwischen sei "etwa jedes fünfte Kind und jeder dritte Jugendliche übergewichtig", sagte sie. Bei sieben bis acht von 100 Kindern und Jugendlichen erreiche "das Übergewicht das Ausmaß einer Krankheit".

Gleichzeitig versprach Künast Gegenmaßnahmen. Dazu gehört eine "Plattform Ernährung und Bewegung", die heute in Berlin ihren Gründungskongress veranstaltet.

Der eingetragene Verein, zu dessen Gründungsmitgliedern neben der Regierung auch Verbände der Lebensmittelbranche und Landwirtschaft, Sportverbände, Kinderärzte und Krankenkassen gehören, soll die Kräfte "aller beteiligten gesellschaftlichen Akteure" bündeln.

Ziel sind "Ernährungsaufklärung" und "Initiativen, die zu vermehrter Bewegung und sportlicher Aktivität von Kindern und Jugendlichen beitragen".

Berthold Koleztko von der Universität München sieht die Initiative positiv: "Wir müssen Bewusstsein für das Thema Übergewicht bei Kindern schaffen", so der Kinderarzt. Dicksein koste Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit und belaste die Gesellschaft.

Da sei es gut, "dass sich alle beteiligten Gruppen an einen Tisch setzen". Allerdings dürfe man Initiativen für Obst und Gemüse in Kindergärten und mehr Sport in Schulen nicht überschätzen. "Mit solchen Kampagnen allein ist das Problem sicher nicht in den Griff zu bekommen", sagt Koletzko.

Denn die Gründe, warum Kinder dicker werden, liegen womöglich tiefer in der Verantwortung der Politik.

"Die Ursachen von Übergewicht sind in der sozialen Struktur einer Gesellschaft verwurzelt", sagt Petra Kolip von der Universität Bremen: Bildungs-, Wirtschafts-, Städtebau- und Sozialpolitik hätten Lebensbedingungen geschaffen, die sich im Gewicht der Kinder niederschlagen.

Der Schlüsselsatz findet sich bereits im Armutsbericht 2001 der Regierung. Demnach bestehe bei Kindern ein Zusammenhang zwischen "Sozialstatus der Eltern und dem Gesundheitsverhalten bzw. der Krankheitsanfälligkeit". Sozial benachteiligte Kinder seien "häufiger ungesund ernährt, häufiger übergewichtig und körperlich weniger aktiv".

Doch wie groß das Problem wirklich ist, wissen auch Künasts Fachleute nicht. Ein Indiz ist, dass in neuen Stellungnahmen des Ministeriums die alte Schätzung von "20 bis 30 Prozent" übergewichtiger Kinder auf "10 bis 20 Prozent" etwa halbiert ist.

"Es gibt derzeit keine verlässlichen Zahlen", sagt Bärbel-Maria Kurth, Abteilungsleiterin im Robert-Koch-Institut (RKI). Daher hat das RKI im Mai 2003 begonnen, 18.000 Kinder vom ersten bis zum 18. Lebensjahr zu befragen und zu vermessen.

Grenze zwischen Normal- und Übergewichtigen ist willkürlich

Prinzipiell bezweifelt jedoch kaum jemand, dass Kinder in Deutschland ebenso an Pfunden zulegen wie besser untersuchte Altersgenossen im Ausland. Das Maß für die Körperfülle ist der Körpermasse-Index (BMI oder "Body-Mass-Index"): Das Gewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Größe in Metern. Bei Kindern verschiebt sich das Verhältnis von Gewicht zu Größe aber laufend während des Wachstums.

Daher haben Ärzte aus den Daten von 37.000 Kindern und Jugendlichen eine Art Eichtabelle entworfen: Im Prinzip wurden Mädchen und Jungs eines Alters nach zunehmenden BMI in eine Reihe sortiert, die Dürrsten nach links, die Dicksten nach rechts.

Weil unklar ist, was ein bestimmter BMI für die Gesundheit bedeutet, haben sich Forscher geeinigt, einfach die schwersten zehn Prozent der Kinder als "übergewichtig", die schwersten drei Prozent als "krankhaft übergewichtig" einzuordnen. Diese Grenze zwischen Normal- und Übergewichtigen sei "ein Stück weit willkürlich", räumt die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) ein.

Wie willkürlich die Grenzen sind, zeigt sich daran, dass es international gleich drei solcher Tabellen gibt: Je nach Wahl sind von 100 Berliner Schulanfängern mal elf und mal vier "zu dick".

Doch egal welche Tabelle man wählt, fast immer zeigt sich ein Muster: Rüdiger von Kries von der Universität München hat bei Bayerischen Einschulungsjahrgängen seit 1982 den BMI verfolgt. Bis 1997 hat es bei der schlanken Hälfte der Erstklässler keine Änderung des BMI gegeben; angestiegen ist der Masseindex nur in der molligeren Hälfte.

"Die Zahl der Übergewichtigen nimmt deshalb zu, weil bei der dickeren Hälfte der Kinder der Unterschied zu den Schlanken größer wird", sagt Koletzko (siehe auch Interview).

Und eine Reihe von anderen Studien zeigt, dass es eben stark von sozialen Faktoren abhängt, wie leicht ein Kind auf die massigere Seite gerät. Dietrich Delekat von der Berliner Senatsverwaltung hat Daten der etwa 18 500 im Jahr 2001 in Berlin eingeschulten Kinder ausgewertet.

Von fünf "dicken" Kindern des Jahrgangs stammten vier aus zwei Gruppen: Aus Einwanderungsfamilien, deren Kinder fast doppelt so häufig "dick" sind wie deutsche Altersgenossen. Oder aus deutschen Familien mit niedrigem und mittlerem Sozialstatus.

Wissen um ausgewogene Ernährung nur schwer umzusetzen

Während bei Oberschicht-Kindern acht von 100 Erstklässlern dick sind, ist die Rate beim Nachwuchs der beiden anderen Gruppen mit 16 von 100 Kindern doppelt so hoch. "Der Blick auf solche sozialen und kulturellen Zusammenhänge ist wichtig, damit man Gegenmaßnahmen fokussieren kann", so Delekat. Er ist skeptisch, dass Initiativen zu Sport und Ernährung allein etwas ausrichten.

"Gerade diese Gruppen sind durch Aufklärung kaum zu erreichen, wenn man nicht vorher für die nötige Bildung sorgt", bestätigt Petra Kolip. So steigt mit sinkender Bildung die Zeit, die Kinder bewegungslos vor dem Fernseher verbringen.

Gleichzeitig fehlt sozial Benachteiligten die Voraussetzung, Wissen um ausgewogene Ernährung umzusetzen. Sie sind so auch anfälliger für neue, kalorienreichere Produkte der Industrie.

Mit Sorge sieht Kolip, "dass sich die Sozialschere eher weiter öffnet". Der Anteil sozial benachteiligter Kinder steigt: Bundesweit gilt jedes siebte der knapp 15 Millionen Kinder und Jugendlichen als "arm". "Frau Künast sitzt im falschen Ministerium", sagt Delekat: "Wie viele dicke Kinder wir haben, hat im Grunde wenig mit Ernährung zu tun."

© Süddeutsche Zeitung vom 29. September 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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