Neapel zwischen Müll und Mafia:In den Gassen der Gangster

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Abfall, Armut, Anarchie und Auftragsmorde prägen die süditalienische Metropole - viele Bewohner setzen daher mehr auf die Camorra als auf den Staat. Ein Rundgang durch Europas berüchtigtste Stadt.

Stefan Ulrich

Der Polizeibeamte in der dunkelblauen Uniform lugt aus seinem gläsernen Wachhaus am Eingang des Justizpalasts von Neapel. Hier, hinter den hohen Stahlzäunen, versucht die größte Staatsanwaltschaft Italiens, der Camorra und der allgemeinen Anarchie in der Stadt die Stirn zu bieten. Ein gefährlicher Job ist das, und entsprechend misstrauisch werden Besucher gemustert.

Doch dann springt der Wachmann auf und eilt aus seinem Häuschen. "Sie sind Journalist?", fragt er und reißt die Augen fast flehentlich auf. "Dann schreiben Sie bitte nicht nur schlecht über Neapel. Die ganze Welt redet derzeit Übles über unsere Stadt, über all die Morde, die Camorra. Aber Neapel hat doch auch schöne Seiten - und gute Menschen."

Die Suche nach diesem anderen Neapel kann angenehm beginnen. Fast lautlos und erschütterungsfrei gleitet der Hochgeschwindigkeitszug Eurostar mit bis zu 300 Stundenkilometern von Rom nach Süden. Auf die Minute pünktlich fährt er in Neapel ein - eine Demonstration italienischer Eleganz, Effizienz und Modernität. Doch dann verlässt man das Bahnhofsgebäude und landet auf der Piazza Garibaldi - in einer anderen Welt.

Killer klauen Krankenwagen

Der riesige Platz ist von Baustellen aufgerissen wie ein ausgeweidetes Tier. Zwischen den Absperrungen wuseln sich hupende Autos und Motorräder hindurch. Auf jedem freien Fleckchen haben fliegende Händler Waren ausgebreitet, gefälschte Gucci-Gürtel und Raubkopien von Hollywood-Filmen, getrocknete Kugelfische, Skihandschuhe oder Hitlers "La mia battaglia" - Mein Kampf.

Mitten im Getümmel verkaufen Garküchen frittierte Broccolistücke und mit Ragout gefüllte Reisbällchen. Ein kräftiger Mann steuert eines der Tischchen auf der Straße an. Mit energischer Armbewegung wischt er Becher, Plastikteller und Bierflaschen aufs Pflaster. Glas klirrt, niemand schaut auf, auch nicht die Polizisten, die an vielen Ecken dem Treiben auf der Piazza zusehen. Ein Passant schüttelt den Kopf und sagt: "Ich bin Neapolitaner, ich lebe hier, und ich sage ihnen: Das hier ist nicht Dritte, sondern Vierte Welt. Hier gelten keine Regeln mehr. Schauen sie sich nur den Müll an."

Tatsächlich ist der Müll allgegenwärtig. Er purzelt in blauen, weißen und schwarzen Plastiksäcken aus den Containern, türmt sich auf den Plätzen zu meterhohen Hügeln, wälzt sich aus Einfahrten auf die Straße und scheint aus allen Ritzen des schwarzen Lavapflasters zu dringen, als ob die Stadt eine dunkle Seele ausschwitzen wolle. Die vielen Schönheiten Neapels, seine barocken Kirchen und Paläste, werden buchstäblich zugemüllt.

Der Müll - das ist das eine Thema, mit dem die Stadt Schlagzeilen macht. Das andere ist der Tod. Nahezu täglich werden Morde gemeldet, die Clans bekriegen sich auf offener Straße, und ab und an wird ein Bürger oder Tourist von Querschlägern getroffen. Seit Anfang des Jahres haben die Mafiosi schon mehr als 70 Menschen ermordet. Die Täter agieren dabei mit einer Kaltschnäuzigkeit, die an Gangsterfilme erinnert. Vor ein paar Tagen klauten einige Killer einen Krankenwagen. Sie fuhren damit an ihr ahnungsloses Opfer heran, sprangen heraus, schossen es nieder und brausten davon.

Die Neapolitaner versuchen, so gut sie können zu überleben. "Ab und zu gibt es einen kleinen Aufstand", sagt Chiara Marasca. "Dann sagen alle Basta, es reicht, doch nach ein paar Wochen ist fast alles wieder beim Alten. Der normale Bürger hat daher resigniert; und er fühlt sich legitimiert, auf eigene Faust sein Recht zu suchen. Deshalb akzeptieren die Leute immer weniger Regeln."

Chiara Marasca arbeitet für die "Beobachtungsstelle über die Camorra", eine Forschungseinrichtung, die die Tageszeitung Corriere del Mezzogiorno betreibt. Der Staat nehme die Rechtlosigkeit hin, sagt sie. "Neulich war ich mit einer Freundin ein Bier trinken. Als ich zu meinem Auto kam, presste mir ein selbst ernannter Parkwächter einige Euro ab, obwohl neben uns ein Polizist stand."

Die Abwesenheit des Staates zeige sich bei vielen alltäglichen Dingen, bestätigt der Soziologieprofessor Giacomo Di Gennaro von der Universität Federico II., der in Chiara Marascas Büro im Hafenviertel gekommen ist. "Mittlerweile müssen Hausbesitzer schon Schutzgeld für ihre Innenhöfe bezahlen; und welchen Wachdienst sie beschäftigen oder welchen Maler, das bestimmt die Camorra."

Di Gennaro hat nach den Ursachen der neapolitanischen Krankheit geforscht und viele Erklärungen gefunden. Er nennt den Niedergang der Großindustrie und das Verschwinden einer selbstbewussten Arbeiterkultur. An deren Stelle seien Arbeitslosigkeit, Gelegenheitsjobs und Schwarzarbeit getreten.

"Umso schlimmer wirkt sich aus, dass Neapel traditionell kein unternehmerisch denkendes, engagiertes und aufgeklärtes Bürgertum hat, wie etwa Palermo." Und dann sei da die erdrückende Enge, in der die Menschen hier zusammenlebten. Einige Viertel der Altstadt zählen zu den dichtbevölkertsten Europas. Die Politiker hätten es verpasst, die Stadt zu entflechten und neue Zentren zu schaffen, wie es im Großraum Los Angeles geschehen sei.

Die Höhlen der Ärmsten

Die meisten Neapolitaner sehen in den Politikern die Hauptverantwortlichen für die Misere ihrer uralten Stadt, die einst zu den glänzendsten Europas zählte. Auch der Soziologieprofessor sieht das so. Seit anderthalb Jahrzehnten könne die Linke Neapel und die umliegende Region Kampanien mit satten Mehrheiten regieren. Deren Ergebnis sei beschämend.

So seien keine Pläne für die Müllbeseitigung gemacht worden. Zeitweise sei der Unrat daher zur Verfeuerung nach Deutschland gekarrt worden - und Neapel musste teuer dafür bezahlen. Auch im Kampf gegen die Kriminalität ließen die Politiker Beständigkeit vermissen. Die Herrschaft der linken Bürgermeisterin Rosa Russo Iervolino sei ein Desaster. Doch auch die schwache Rechte Neapels biete kaum eine Alternative.

Ein tristes Bild, das Chiara Marasca nicht ganz so stehen lassen will. "Wir können nicht sagen, dass sich gar nichts ändert", sagt sie. Bei den jungen Leuten gebe es Versuche, sich gegen den Niedergang zu stemmen. Ein Beispiel dafür findet sich in den total von der Camorra verseuchten spanischen Vierteln.

Hier, Tür an Tür mit den Mafiosi, versucht die "Associazione Quartieri Spagnoli", eine Initiative von Pädagogen, Sozialarbeitern und Streetworkern, die Mädchen und Jungen des Viertels von den Fängen der Camorra fernzuhalten. Sie haben in einigen der halb verfallenen Häuser des Viertels, etwa in den Gewölben eines alten Klosters, eine Turn- und eine Spielhalle, eine Hausaufgaben-Betreuung und Beratungsbüros eingerichtet. Dort sollen die Jugendlichen von der Schulzeit bis zu ersten Erfahrungen in legalen Jobs begleitet werden. Die Erfolgsquote liege bei 20 Prozent, sagt Davide Triggiani, ein 34-jähriger Mitarbeiter. "Einen von fünf Jugendlichen bringen wir auf den rechten Weg." Alle anderen stürzten ab.

Jeden Außenstehenden muss das schockieren, doch wer sich diese engen, feuchten und dunklen Gassen anschaut, die sich schachbrettartig unterhalb des Vomero-Hügels ausbreiten, dem erscheinen diese Zahlen fast folgerichtig. Die Quartieri Spagnoli wurden im 16. Jahrhundert für die Garnisonen des damals spanisch beherrschten Neapel gebaut. Später zogen die Ärmsten der Armen in die engen Wohnungen.

Das Erdbeben von 1980 traf das Viertel schwer, doch die Menschen blieben. Dicht wie Vorhänge hängt die Wäsche von den Balkonen der zerbröckelnden Fassaden. In den "Bassi", den auf Straßenniveau gelegenen höhlenartigen Wohnungen, leben Großfamilien auf engstem Raum um ihren Fernseher herum. Draußen, auf den steilen, mit Kopfstein gepflasterten Straßen, brausen junge Burschen auf ihren Motorrädern herum - wie Raubtiere im Stadtdschungel.

Offiziellen Zahlen zufolge lebt jede vierte Familie in den Altstadtvierteln unterhalb der Armutsschwelle, 65 Prozent der Jugendlichen hat keinen legalen Job. Die Zahl der Häftlinge, die aus diesen Gassen kommen, ist fünf Mal so hoch wie im Landesdurchschnitt. "Hier ist es viel leichter, für die Camorra zu arbeiten, als sich ehrlich Geld zu verdienen", sagt Davide Triggiani. Die Jungs verkaufen Drogen und bekommen dafür die Dinge, die ihnen wichtig sind. Schicke Klamotten, Handys, Motorräder. Viele Leute aus der Gegend sehen in der Camorra ihre Regierung und im Staat einen Verbrecherclan. So wird die Polizei in diesen Vierteln immer wieder von Bürgern attackiert, wenn sie einen Mafioso festnehmen will.

Giovanni Laino, der an dem Sozialprojekt mitarbeitet, ist in dieser Brutstätte der Gewalt aufgewachsen, zusammen mit fünf Geschwistern. "Ich hatte Glück, weil meine Eltern sich um unsere Erziehung kümmerten", sagt Laini, der heute als Professor für Urbanistik lehrt und noch immer im Viertel lebt. "Viele Menschen haben am Ende des Monats nicht mehr das Geld, um sich noch Nudeln zum Essen zu kaufen", sagt er. Da sei es für die Camorra ein Kinderspiel, Nachwuchs anzuwerben. Zudem lasse die Polizei nicht nur der Camorra, sondern auch der alltäglichen Gesetzlosigkeit freien Raum. Wenn er sich über die Müllberge, Schwarzbauten oder wild zugeparkten Straßen bei den Behörden beschwere, bekomme er zu hören: "Was erwarten Sie denn? Wir sind doch hier in Neapel."

Selbst Strafzettel fehlen

Giovandomenico Lepore wiegt den Kopf, wenn man ihn auf die Misere anspricht. "Es ist nicht alles schwarz in Neapel, aber wir können nicht verhehlen, dass die Lage schwierig ist." Er muss es wissen. Von seinem riesigen Schreibtisch aus leitet er die 120 Staatsanwälte Neapels. "Wir haben durchaus Erfolge", sagt er, und blickt auf die düsteren, barocken Schlachtengemälde an seiner Bürowand.

Die Zahl der Anzeigen nehme zu, und die Zahl der Morde liege niedriger als vor einem Jahr. Andererseits verhehlt der Chefermittler mit der Reibeisenstimme nicht, dass in seiner Stadt anarchische Zustände herrschen. "Denken Sie über den Charakter der Neapolitaner nach", sagt er. "Die Toleranz ist ihnen angeboren. Aber sie führt dazu, dass Regeln ignoriert werden." Selbst die Unterwelt sei, im Gegensatz zur sizilianischen Cosa Nostra, chaotisch. "Im Zentrum operieren Drogen- und Erpresserbanden, die keinem zentralen Kommando unterstehen. Die Konfusion, die Neapel prägt, herrscht auch unter den Clans." Dennoch bleibe er Optimist. "Sonst müsste ich ja aufhören."

Ein paar Stockwerke über ihm überlegt derweil der junge Staatsanwalt Raffaele Cantone, wie lange er diesen Job noch aushält. "Ich liebe meine Arbeit", sagt er, "aber wenn die Lage so bleibt, kann ich sie wohl nicht mehr allzu lange machen." Cantone ist einer der Anti-Camorra-Spezialisten der Justiz, er kämpft an vorderster Front, wird immer wieder mit dem Tod bedroht und lebt unter Rundum-Bewachung.

"Ich bewege mich so wenig wie möglich und führe ein gepanzertes Leben", sagt er. "Wenn ich für meine Frau ein Geschenk zum Hochzeitstag kaufe, stehen die Leibwächter neben mir im Laden. Unsere Nachbarn beschweren sich über die ständige Polizeiüberwachung unserer Straße. Und mein achtjähriger Sohn kam neulich heulend von der Schule heim und sagte, ein Mann habe ihn verfolgt. Es war ein Leibwächter."

Das alles ließe sich vielleicht ertragen, wenn Staatsanwälte wie Cantone den vollen Rückhalt des Staates spürten. Doch sie werden vernachlässigt. Dienstreisen müsse er erst einmal aus eigener Tasche bezahlen, weil kein Geld da sei, sagt er.

Bis heute seien ihm nicht mal seine Auslagen vom Mai erstattet worden. Zudem gehe ständig das Material aus. So schreibe das Gesetz bei der Vernehmung von Häftlingen Bandaufzeichnungen vor, doch es fehlten die Cassetten. Polizisten klagen, sie hätten keine Strafzettel mehr. "Zu allem Überfluss haben wir ein barockes Prozessrecht, das zu absurd langen Verfahren führt und es letztlich dem Zufall überlässt, ob einer im Gefängnis landet."

Beim Verlassen des Justizpalastes grüßt der blauuniformierte Wachmann. Wo bleiben denn nun die schönen Eindrücke von Neapel? Es gibt sie durchaus: die eleganten Signore, die am Spätnachmittag unter der grandiosen Glaskuppel der Galleria Umberto I. flanieren; der Nonnenchor, der in der lichten gotischen Kirche San Lorenzo Maggiore den Abend einsingt; oder die filmreif wirkenden Kellner mit ihren langen Koteletten und schwarzen Fliegen, die im Traditionslokal "Mimì alla Ferrovia" auf die ersten Gäste warten. Sie werden gut speisen, die Gäste, und dabei womöglich die hässlichen Seiten Neapels vergessen. Doch auf dem Heimweg werden sie wieder im Müll versinken.

© SZ vom 13.11.06 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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