Neapel:Wo die Rache Pate steht

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Camorra, Drogen und eine machtlose Polizei — warum allein in diesem Jahr 120 Menschen in einem archaischen Kampf ermordet wurden. Seit Monaten tobt in Neapel ein brutaler Bandenkrieg:"Bagdad scheint dagegen eine friedliche Stadt zu sein".

Von Christiane Kohl

Die Dritte Welt liegt in Neapel gleich hinter der "Straße zum Paradies". Häuser wie Pappkartons säumen die Straßen, zwei, drei Stockwerke hohe Fassaden in schmutzigem Grau, deren Eingänge mit schweren Gittern bewehrt sind.

Wie auf dem Schachbrett sind die Straßen angelegt, am Rande eines kleinen Platzes bläst der Wind Papierabfälle über den Teer, dazwischen leuchten ein paar elektrische Kerzen vor einer Statue, die Pater Pio darstellt, den Volksheiligen des Mezzogiorno.

Der Asphalt auf den Bürgersteigen ist bröckelig, an einer Kreuzung stehen ein paar junge Männer und schauen misstrauisch in unser Auto hinein. "Keine Sorge", sagt Ciro Froncillo und beschleunigt den Wagen doch ein wenig, "mich kennen sie hier".

Die Männer schieben Wache, damit auch ja niemand ihr Viertel betritt, den sie für unbefugt halten. Anderntags wird man in der Zeitung lesen, dass sie sogar die Patienten einer nahe gelegenen Poliklinik daran hindern, zum Arzt zu gelangen. Eingeschlossen zwischen den Mauern eines großen Friedhofs und der Autobahn ist das Quartier in der Peripherie von Neapel eine kleine Welt für sich - "hier hat die ganze Tragödie angefangen", sagt Froncillo.

Mittlerweile hat er seinen Fiat ein paar Straßen weiter gelenkt, wo riesige Betonklötze die Sicht versperren. "Die Segel" werden die Gebäude verniedlichend genannt, die sich wie gewaltige Sperrmauern am Straßenrand auftürmen. Von den Balkons ist der Putz abgefallen, die Tragegerüste der riesigen Treppenhäuser im Inneren scheinen vom Rost durchfressen zu sein.

In der Metzgerei erschossen

Froncillo stoppt den Wagen, und schon wieder werden wir von ein paar misstrauischen jungen Männern beäugt. Etwas weiter entfernt steht eine Polizeipatrouille, das Blaulicht auf dem Wagendach flackert, sonst aber bewegt sich nichts bei den Ordnungshütern.

"Hier war bis vor kurzem noch Europas größter Drogenmarkt", erzählt Froncillo, jahrelang habe die Polizei in friedlicher Koexistenz mit den Dealern gelebt. Nun aber "kommt man sich manchmal vor wie in Beirut", fährt er fort. Seit etwa 20 Jahren arbeitet der Mann mit der blauen Seglerjacke in dem Trabantenviertel Scampia im Norden von Neapel.

Früher war er mal Helikopterpilot, jetzt leitet der 53-Jährige ein Sozialzentrum, in dem versucht wird, Kindern die Schule schmackhaft zu machen und Arbeitslosen eine Beschäftigung zu geben. Er hat zwei Herzinfarkte hinter sich, drei Bypässe und viele Noteinsätze. Doch was im Augenblick passiert, hat Froncillo so noch nicht erlebt.

Archaischer Krieg um Beton-Segel und Papphäuser

Ein archaischer Krieg ist ausgebrochen rund um die Beton-Segel und die Pappkartonhäuser. Immer wieder werden Menschen umgebracht, der Kampf tobt schon seit Monaten. Seit Jahresanfang wurden mehr als 120 Morde in Neapel gezählt, und in den letzten Wochen scheint sich die Lage noch zu verschärfen: Vergangenes Wochenende gab es allein vier Tote.

In einem Clan der Camorra, die in Neapel allgegenwärtig ist, hat sich ein Bandenkrieg entzündet, weil einige jüngere Mitglieder begonnen hatten, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Seitdem versuchen sich die verfeindeten Gruppen gegenseitig zu vernichten.

Beinahe täglich kommt es zu Wildwest-Szenen auf den Straßen. Da wird ein junger Mann mitten in einer Metzgerei, die voller Kunden ist, von verfeindeten Gangstern erschossen. Später am Abend erwischt es einen anderen jungen Mann auf offener Straße. Der 26-Jährige ging einer ordentlichen Arbeit nach, war nicht einmal vorbestraft - doch er fuhr ein rotes Motorino, deshalb haben ihn die Killer mit ihrem eigentlichen Ziel verwechselt.

Mit schier unglaublicher Brutalität befehden sich die Banden, ein Boss, der schon vor Monaten verschwand, wurde womöglich nach der Tötung in Salzsäure aufgelöst, wie die Polizei aufgrund von abgehörten Telefongesprächen vermutet-"Lupara bianca", weißes Gewehr, heißt die Methode, die man vor allem von der Cosa Nostra in Palermo kennt.

Innenminister Giuseppe Pisanu hat schon 13.000 Polizisten nach Neapel geschickt und die Befriedung des Viertels zur nationalen Aufgabe erklärt. Sein Ministerkollege Roberto Calderoli von der Lega Nord forderte gar, dass die italienischen Soldaten, die zur Zeit im irakischen Nassiria im Einsatz sind, nach ihrer Rückkehr nach Italien an den Golf von Neapel dirigiert werden sollten: "Bagdad scheint eine friedliche Stadt zu sein gegen Neapel", meinte er.

Ein ganzes Gemisch von Gründen

Doch für Leute wie Froncillo kann die Antwort nicht nur eine militärische sein. Ein ganzes Gemisch von Gründen habe die Gewalt in Scampia zum Ausbruch gebracht: Fehlende Arbeit, der Mangel an Erziehung zur Legalität, eine "Architektur ohne menschliche Dimension".

Hinzu kommt die neapolitanische Eigenart, einfach wegzuschauen, wenn etwas passiert. "Es gibt ein weit verbreitetes Gefühl der Illegalität in der Stadt", sagt Riccardo Marone, der ehemalige Bürgermeister von Neapel. Das beginnt mit den unzähligen wilden Parkplätzen und endet in den seit vielen Jahren besetzten kommunalen Wohnungen.

Fortbewegung ist ein täglicher Kampf in der Stadt, weil niemand sich an die Regeln hält und alle die Präferenzspur benutzen, die eigentlich nur für Taxen und Busse da ist. Mitten im Gewühle demonstrieren die Arbeitslosen, die Tag für Tag die Straßen blockieren. "Arbeitslos sind die eigentlich nicht", sagt Marone, "in Wahrheit werden sie von der Camorra bezahlt."

Doch die Polizei schreitet nicht ein. So wenig wird in Neapel auf die Einhaltung der Regeln geachtet, dass beinahe jedes Jahr der Weihnachtsbaum gestohlen wird, den ein rühriger Unternehmer stets aufs Neue in der prachtvollen Passage beim Teatro San Carlo aufstellen lässt. Dieses Jahr wurde ein städtischer Sekretär zufällig Zeuge, als ein paar Jungen sich anschickten, den Baum zu klauen.

Er schrie um Hilfe, die Jungen liefen weg. Hernach wurde der Stadtbedienstete beinahe wie ein Held gefeiert.

Die kleinen Dinge zählen

"Es sind die kleinen Dinge, die zählen", meint der Jura-Professor Giuseppe Riccio. Er wohnt mitten in der Altstadt, "letztens gab es hier gleich um die Ecke eine Schießerei", berichtet er. Mit seinen Studenten macht der Professor beinahe täglich Übungen, um sie zur Legalität zu erziehen. "Das beginnt mit der Zeitung, der Diskussion über die letzten Delikte", berichtet er, "aber ich frage die Studenten auch, wo sie beispielsweise ihre Tasche gekauft haben."

Wenn sie von einem der fliegenden Händler sei, "kläre ich die Leute auf, dass sie damit letztendlich die Camorra unterstützen." Plötzlich schaut der Professor von seinem Schreibtisch auf: "Ich bin sicher, dass in meinen Kursen auch Kinder von Camorra-Bossen sitzen."

Die Camorra, das ist eine lange Geschichte in Neapel. "Seit dem 19. Jahrhundert gibt es das Phänomen", sagt Maria Fortuna Incostante, die Assessorin für Sicherheit in der Region Kampanien: "Aber im Augenblick ist das alte Gleichgewicht zerstört." Einstmals ging es um diverse Schmuggelgüter, gefälschte Waren, unerlaubte Spiele, Prostitution.

Dazu kam der Pizzo, die bei Einzelhändlern und Restaurantbesitzern erzwungene Gebühr, ohne die in vielen Gegenden Neapels bald kaum jemand mehr ein Geschäft führen konnte. Dann wurde die Bodenspekulation lukrativ, der Bauboom und schließlich der Drogenhandel.

Mit dem Erdbeben, das die nahe gelegene Region Irpinia 1980 erschütterte, machte auch die Camorra einen Sprung: Plötzlich flossen massenweise Staatsgelder nach Neapel und Umgebung, und die Clans profitierten mächtig davon.

Etwa um dieselbe Zeit wurden in Scampia auch die schrecklichen Betonsegel gebaut, zu Tausenden zog es damals Familien in das Viertel, die durch das Erdbeben obdachlos geworden waren. "Schauen Sie, so grün war das hier früher überall", sagt Froncillo in seiner blauen Segeljacke, während wir an einem scheinbar vergessenen, ungepflegtem Stück Wiese vorbeifahren. Rund 40.000 Bewohner zählt das Viertel nach offiziellen Angaben, tatsächlich sollen rund 80.000 Menschen hier leben.

Und im benachbarten Quartier Secondigliano wohnen noch einmal etwa 40.000 Leute. Geschäfte aber gibt es um die Betonklötze kaum, eine Polizeistation wurde erst 1997 aufgemacht - da hatten sich die verschiedenen Clans das Territorium längst aufgeteilt.

Erfolgreich operierte vor allem Paolo Di Lauro, den sie heute "Ciruzzo o Milionario" nennen. Der 52-jährige Di Lauro ist gewissermaßen im Textilhandel groß geworden. Er ließ Designerkleider billig nachschneidern, um sie dann in Nordeuropa teuer zu verkaufen. Zunächst hatte er seine Produzenten in der Gegend von Neapel gefunden, wo man seit Jahrzehnten praktisch alles fälschen kann. Dann suchte und fand er Produktionsstätten in Asien.

"Sein Geschäft war nicht strafbar in Italien, deshalb wurden hier keine Ermittlungen gegen ihn eröffnet", berichtet Paolo Mancuso, einer der stellvertretenden Chefs der napolitanischen Staatsanwaltschaft. Unterdessen aber hatte Di Lauro begonnen, seine weltweiten Kontakte auch für andere Geschäfte zu nutzen - er stieg in den Drogenhandel ein.

Das war vor 10 bis 15 Jahren, seitdem blühte das Geschäft so kräftig, dass sich Scampia zu einem der größten Drogenmärkte Italiens entwickelte. "Aus ganz Italien kommen die Kunden hierher", berichtet der Staatsanwalt Mancuso, Scampia sei gleichsam ein Großmarkt für Rauschmittel. Das Zeug wurde in den hässlichen Innenhöfen der Beton-Segel verkauft, in den dunklen Unterführungen und den engen Straßen der "Dritten Welt".

Dort selbst residierte auch der Clan-Chef in einer Wohnung im Landhausstil, wie jetzt herauskam. Di Lauro befehligte ein ganzes Heer von Drogenhändlern, die Platz für Platz kontrollierten.

Keine Rekrutierungsschwierigkeiten

Rekrutierungsschwierigkeiten gab es bei der grassierenden Arbeitslosigkeit in Scampia nicht. Offiziell soll die Arbeitslosenquote für junge Leute bei rund 55 Prozent liegen, in Wahrheit, schätzen Kenner wie Froncilla, seien beinahe 70 Prozent ohne legale Beschäftigung.

"Wenn wir zehn Männer festnehmen, stehen gleich 100 Neue da, die den Posten übernehmen", meint Staatsanwalt Mancuso. Der florierende Drogenhandel wurde offenbar jahrelang toleriert. "Dort unten in der Stadt waren sie doch froh, die Drogenabhängigen los zu sein", glaubt Froncillo. Doch die Behörden hatten vielleicht auch zu viel mit sich selbst zu tun: Während sich der Camorra-Boss Di Lauro dumm und dusslig verdiente, tobte in der Staatsanwaltschaft ein Mobbingkrieg um den Behördenleiter.

Jahre zuvor hatten die Staatsanwälte von Neapel wie ihre Kollegen in Palermo einen entscheidenden Schlag gegen die alten Camorra-Bosse in den Traditionsvierteln geführt. Als sich die neuen Clans in Scampia formierten, spionierten die Ermittler aber vor allem gegeneinander - "wir waren über mehrere Jahre regelrecht paralysiert", berichtet Mancuso.

Wichtige Zeit ging so für die Ermittler verloren, erst mit der Abberufung des Behördenleiters kamen die Ankläger wieder in Bewegung. Nun gibt es seit längerem einen Haftbefehl gegen den Clan-Boss Di Laura, der setzte sich jedoch rechtzeitig ins Ausland ab. Sein Sohn Cosimo übernahm die Geschäfte, irgendwas ging jedoch schief dabei.

Ob Cosimo seinen Getreuen zu wenig zahlte oder ob es andere Gründe gab - bald spaltete sich jedenfalls eine Gruppe von Aufständischen ab. Zwischen ihnen und den Di Lauros tobt jetzt der Krieg. Ein Kampf, der nach den Beobachtungen von Staatsanwalt Mancuso ungleich brutaler geführt wird, als in früheren Jahren: Immer geht es gleich um Mord und Totschlag.

Im Park des Frühlings

Freilich gab jetzt endlich auch die Ordnungsmacht kein Pardon mehr. Vergangene Woche wurden bei einer Razzia mehr als 50 Männer festgenommen, auch ein Sohn der Di Lauros war dabei. Mauern, die illegal mitten auf der Straße hochgezogen worden waren und mit denen sich die Drogenhändler jahrelang vor dem Zugriff der Polizei geschützt hatten, wurden eingerissen.

Auch die dunklen Unterführungen vor den Betonklötzen in Segelform wurden geschlossen. "Der Staat hat reagiert", freut sich Froncillo, "wenn auch mit Verspätung." Denn auch auf den eher zivilen Gebieten hat sich etwas getan.

Der Zentrumsleiter zeigt einen Plan, auf dem man braun und blau gefärbte Flächen sieht: Hier sei ein Kinozentrum vorgesehen, dort ein Abenteuerspielplatz, ein Sportzentrum und ein Handwerkerviertel. Letztes Jahr wurde sogar ein Teil der Segelkolosse abgerissen, stattdessen werden seit einiger Zeit Wohnungen errichtet, die auch bewohnbar sind.

Man sieht Blumentöpfe auf den Balkons, die Siedlungen tragen optimistisch klingende Namen wie "Park des Frühlings". Wichtiger noch ist, dass die Leute, die dort hingezogen sind, auch ein Leben in Legalität anstreben, wie Froncillo meint: "Die wollen nichts mehr zu tun haben mit den Drogenleuten."

Und so hat der Kampf in Scampia für ihn auch etwas Positives. "Hier ist eine Rebellion im Gang", meint er, "die ordentlichen Leute wollen die anderen aus dem Viertel drängen." Doch diese sind keineswegs wehrlos, sie kämpfen ihrerseits nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen die Polizei.

So wurde, kurz nach dem Besuch des Innenministers, eine Leiche mal quer durch die Stadt gefahren und in der Nähe eines Polizeireviers abgelegt, nur um zu zeigen, wer die Macht hat in der Stadt. Und auch darin sieht Froncillo noch ein Hoffnungssignal. "Wenn hier Ruhe herrschen würde, wäre das viel schlimmer", meint der einstige Helikopterpilot: "Ruhe gibt es immer nur dann, wenn sich Staat und Camorra miteinander arrangiert haben."

© SZ vom 14.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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