Nach dem Machtwechsel in Frankreich:Was heißt konservativ?

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Der moderne Konservative gleicht dem römischen Gott Janus. Ein Gesicht wendet er zurück und besinnt sich auf Moral, Respekt und Leistung. Das andere Gesicht schaut optimistisch nach vorne in eine ökonomisch angetriebene Zukunft.

Andreas Zielcke

Nicolas Sarkozy hat sein Amt angetreten. Sein Programm, seine bisherigen Aktivitäten, sein ganzer Elan, nichts lässt Zweifel daran, dass seiner Ankündigung, die französische Nation aus ihrer vergangenheitsseligen Stagnation herauszuholen und in die Zukunft zu führen, konsequente Taten folgen werden. Sarkozy ist ein Konservativer. Sein Pendant auf Regierungsebene in Berlin, Angela Merkel, hat denselben Ehrgeiz; sie ist die Vorsitzende einer konservativen Partei.

Auch in deren jetzt vorgelegtem Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms wird zwar ein wenig pseudo-dialektisch, aber doch unmissverständlich der entschiedene Drang nach vorne beschworen: "Die CDU als die große Volkspartei in der Mitte unserer Gesellschaft will bewahren, was unser Land voranbringt, und verändern, was unser Land belastet."

Reagan hat es getan, Thatcher sowieso, José María Aznar auch, Roland Koch tut es - die Liste konservativer Modernisierer ist umfangreich, das Leporello ihrer durchgesetzten Resultate nicht minder. Institutionen umkrempeln, politische Zöpfe abschneiden, die Zukunft ohne die Fesseln der Vergangenheit erobern: Das ist die vorherrschende konservative Stoßrichtung.

Religion, Familie und Patriotismus

Wenn Konservative so energisch das Alte umwerfen, was bedeutet dann heute "konservativ"? Vor nicht allzu langer Zeit, als aus den sechziger und siebziger Jahren heraus ein frischer linksliberaler Wind in die Verhältnisse fuhr, schien es noch, als gäbe es Anlass für eine "konservative Urangst", wie es der Publizist Jan Ross einst formulierte, die Angst nämlich, "dass eine liberal gewordene Linke Individualismus und Marktfreundlichkeit okkupieren und man selbst auf den Ladenhütern von Gott, Familie und Vaterland sitzen bleiben würde". Nun aber ist es, wie man sieht, ganz anders gekommen.

Es sind die Konservativen, die inzwischen das Gesetz der Entwicklungsdynamik bestimmen, indem sie auf ihre Weise Ernst machen mit der Freiheit des arbeitenden oder unternehmerischen Individuums und mit der Freiheit des Marktes.

Und es sind ebenfalls die Konservativen, die es erreicht haben, den vermeintlich abgelebten "Ladenhütern" Religion, Familie und Patriotismus eine unerhörte ideologische Renaissance zu verschaffen.

Es scheint, als ob aus konservativer Sicht heute zwei mythologische Bilder zuträfen: Während traditionelle Sozialdemokraten wie der Engel "Angelus Novus", den Walter Benjamin so dramatisch beschrieben hat, der wohlfahrtsstaatlichen Vergangenheit zugewandt sind und deshalb mit dem Rücken zur Zukunft vom kapitalistischen Sturm der Geschichte nach vorne geblasen werden, hat der neue europäische Konservativismus die Gestalt des römischen Gottes Janus angenommen.

Moralisches Widerlager

In der Antike galt Janus als Wächter des Ausgangs und des Eingangs, des Geschehenen und des Kommenden. Heute wendet sein neokonservativer Geist das eine Gesicht zurück in die einstige Hochblüte des bürgerlichen Zeitalters, um sich dort seines Wertekanons zu versichern, den Sarkozy exemplarisch mit "Autorität, Moral, Respekt, Leistung und dem Stolz auf das eigene Land" benennt, während das andere Gesicht optimistisch nach vorne gerichtet ist auf eine ökonomisch angetriebene Zukunft.

Der Widerspruch ist gewollt: "Modernität", propagiert Jürgen Rüttgers, "Modernität liegt darin, konservativ und progressiv zugleich zu sein." Diese rückwärtsfixierte und vorwärtsdynamische Zwiegesichtigkeit ihres Politikmodells erklären Konservative gerne damit, dass Autorität und nationale Identität, Respekt und Einordnung, aber auch die Familie unerlässliche Stabilitätsfaktoren seien, damit die permanente schöpferische Zerstörung, die der entfesselte kapitalistische Markt bewirkt und bewirken soll, keine fatale Zerstörung von Staat und Gesellschaft nach sich ziehe. Nicht zufällig spricht der konservative Historiker Paul Nolte von den festgehaltenen traditionellen Werten als notwendigem "moralischen Widerlager der Modernitätsdynamik".

Doch so leicht lassen sich normative Statik und ökonomische Verflüssigung nicht ausbalancieren. Die meisten Neokonservativen verstehen ihre Erfolge ja selbst als dringend notwendige Korrektur der "Fehlentwicklungen", die sie der 68er Generation zuschreiben; auch hierin war Sarkozys Wahlkampfrhetorik symptomatisch.

Aus dieser Perspektive lief die ideologische Hegemonie der 68er darauf hinaus, auf der einen Seite einem rein hedonistischen und permissiven Individualismus Vorschub zu leisten und auf der anderen Seite einen rundum versorgenden Staat zu etablieren, dessen weitreichende Bevormundung die Bürger ihrer Selbstverantwortung enthob. So maßlos verzerrt, wie dieses Bild von Anfang an war, so verzerrt wurde der konservative Kampf dagegen geführt.

Freiheit und Nötigung

Die Freiheit des Individuums steht auch im konservativen Kosmos im Mittelpunkt, doch jetzt ist ihr Wert umgewertet - statt staatlich behüteter Selbstverwirklichung nun individuelle Selbstbehauptung, die sich auf dem Markt zu bewähren hat.

Mit dieser marktliberalen Selbstverantwortung aber wird auf historisch neue Weise die individuelle Freiheit mit der Legitimität der Nötigung verknüpft: Der Zwang, sich (von Notfällen abgesehen) ohne behütende Absicherung in den Wettkampf der Fähigkeiten und Findigkeiten zu begeben, löst nolens volens Eigenverantwortung und Willensstärke, Zielstrebigkeit und vitale Qualifikation, Innovation und Problemlösungsphantasien aus. In dieser eminenten zivilen Mobilierungskraft von Energie und schöpferischer Einsatzbereitschaft liegt ohne Zweifel die historische Berechtigung des neuen Konservativismus.

In der Tat, dass es der konkurrenzbezogene Freiheitsbegriff des Konservativismus ist, der für die Freisetzung von sozialer Energie, für Weltoffenheit und Erfindungsreichtum, ja auch für toleranten Pragmatismus steht, muss auch den 68ern zu denken geben. Zu denken geben muss den Konservativen selbst aber, dass sich die beiden Gesichter ihres ideologischen Januskopfes nicht nur voneinander abwenden, sondern eben auch in vielerlei Hinsicht feindlich gesinnt sind.

Nichts könnte der kulturellen und nationalen Identität stärker zusetzen als das unablässige Nötigen und Verlocken des weltweit funktionierenden Marktes zur Grenzüberschreitung. Nichts könnte die bürgerliche Lebenswelt stärker aushöhlen, als Pluralität, Oberflächlichkeit und steter Stilwandel des Marktes ihr abverlangen. Nichts könnte die Achtung vor Autorität tiefer untergraben als die nivellierende Konkurrenz und die Verflüssigung aller Gründe für Ansehen und Respekt. Nichts könnte jede Moral stärker strapazieren als der Zwang des Wettbewerbs zu Realismus und Opportunismus. Nichts könnte die traditionelle Familie stärker unter Druck setzen als die geforderte berufliche und geographische Flexibilität ihrer Mitglieder.

Die 68er mussten über ihre Lebenslügen hinwegkommen, den Neokonservativen steht dies noch bevor.

© SZ vom 19. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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