Muslime in Frankreich:Mehr Kultur als Religion

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Pressekonferenz muslimischer Verbände nach dem Attentat. (Foto: Jean-Francois Monier/AFP)

Die Franzosen wissen wenig über die muslimische Minderheit im Land. Das schürt Angstfantasien.

Von JOSEPH HANIMANN, Paris

Neben der spontanen Betroffenheit durch das Blutbad spüren die Muslime Frankreichs bei jedem neuen Attentat das zusätzliche Unbehagen, sich von den Tätern distanzieren zu müssen. Im Land, das eine lange Immigrationsgeschichte hinter sich hat, von der religiösen Zugehörigkeit der Einwanderer aber offiziell nichts wissen will, sind die muslimischen Bürger eine im Alltag gut sichtbare Minderheit und zugleich teilweise ein Gerücht. Bei einer Umfrage im vergangenen Jahr, wie viele Muslime im Land lebten, schätzten die Franzosen den Anteil an der Bevölkerung auf 23 Prozent. Die wirkliche Zahl dürfte bei unter zehn Prozent liegen. Obwohl Statistiken mit religiösen oder ethnischen Angaben in Frankreich verboten sind, gilt die Zahl von vier bis fünf Millionen Muslimen auf eine Gesamtbevölkerung von 60 Millionen als glaubwürdig. Von den etwa 2500 Gebetsorten sind nur gut 60 mit einem Minarett als Moscheen erkennbar. Bei Raummangel wird mitunter auch auf der Straße gebetet.

Was lange eher wie eine Nebensache aussah, ist seit zwanzig Jahren zu einem Reizthema geworden. Seit 2004 müssen die Mädchen in allen öffentlichen Schulen während des Unterrichts das Kopftuch abnehmen. Seit 2011 ist die Totalverschleierung landesweit im öffentlichen Raum untersagt. Gegenwärtig wird darüber diskutiert, ob die religionsneutrale Republik in den Schulkantinen alternativ zum Schweinefleisch ein anderes Menü anbieten soll.

Die Schwierigkeit liegt darin, den Fanatismus einer Minderheit einzudämmen

Umgekehrt hinkt die Gleichbehandlung in der Gesellschaft hinter dem Gesetzestext hinterher. Prominente Politiker, Medienleute oder Beamte muslimisch-arabischer Herkunft bestätigen die Regel, dass sie im Land weiterhin die Ausnahme sind. Das führt zu Frustration, gerade in den Vorstädten, wo die Zugehörigkeit zum Islam sich mit Sozialproblemen und Integrationspannen paart. Das Ergebnis ist ein Spannungspotenzial aus realen Problemen und geschürten Angstfantasien.

Die Bemühungen, die Muslime wie die Juden im Zentralrat und die Christen in den Kirchen in einer Institution zu organisieren, führte nach mehreren Anläufen 2003 zur Schaffung des "Conseil français du culte musulman". Das Konstrukt aus rivalisierenden Muslimgemeinden algerischer, marokkanischer, türkischer oder sonstiger Herkunft lähmte aber lange sich selbst und errang nicht die angestrebte Autorität. Im Schatten der Rivalität gediehen Nischen mit fanatischen Predigern, die die Frustrationen mancher Jugendlicher auszuschöpfen verstanden und denen der in Religionsdinge sich nicht einmischende Staat zunächst hilflos gegenüberstand. 40 Hassprediger seien in den vergangenen drei Jahren ausgewiesen worden, knapp ein Dutzend seit Beginn dieses Jahres, sagt nun Innenminister Bernard Cazeneuve.

Die Schwierigkeit Frankreichs liegt darin, den Fanatismus einer kleinen Minderheit meist männlicher Jugendlicher einzudämmen und das dafür angerufene Prinzip der "laïcité" nicht als Kriegsmaschine gegen den Islam erscheinen zu lassen. Gerade das ist jedoch der Eindruck, den viele mäßig religiöse, oft gut integrierte Muslime haben, die den Islam mehr als Kultur denn als Religion betrachten. Verschärfte Sicherheitskontrollen lassen sie über sich ergehen. Sie tun sich leichter, ihr Bedauern über die Opfer der jüngsten Attentate auszusprechen als bei den Zeichnern von Charlie Hebdo. Dass aber immer noch mehr auf sie gemünzte Gesetzesentwürfe nötig sind - wie ein Kopftuchverbot für Studentinnen an Universitäten - mögen viele jedoch nicht einsehen.

© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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