Müntefering und die SPD:Szenen einer Ehe

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Franz Müntefering hat sich aufgearbeitet für die SPD, hat ihr eine Heimat zu geben versucht. Er wollte anders mit ihr umgehen als Schröder - und steht nun verlassen da.

Nico Fried

Manchmal kann man sich seine Freunde nicht aussuchen. Franz Müntefering sitzt am Montagabend zur vierten Koalitionsverhandlung im Sitzungssaal der CDU-Zentrale. Draußen hat ihm Jürgen Rüttgers eben als "Anker" der SPD gehuldigt - der Jürgen Rüttgers, den Müntefering vor ein paar Monaten ein Weichei nannte. Nun gibt Müntefering drinnen eine Erklärung in eigener Sache ab.

Gewisse Meldungen dürften ja allgemein bekannt sein, sagt der SPD-Chef mit einem Understatement, als sei nur der Vorsitzende des Bezirks Weser-Ems vom Pferd gefallen. Die Herrschaften von der Union sollten sich aber keine Sorgen machen. Die SPD sei sich einig, sagt Müntefering, "was das Regierenwollen angeht". Man habe jetzt noch zwei Wochen bis zu den Parteitagen, in dieser Zeit müsse man die Koalition hinkriegen. Und dann geschieht es: Die Unions-Politiker klopfen auf die Tischplatte. Sie spenden dem SPD-Chef Applaus.

Erleichterung beim politischen Gegner, Schockstarre bei den eigenen Genossen. Andrea Nahles, die an diesem Tag ihren bislang größten Sieg und zugleich ihre schwerste Niederlage erlitten hat, ist zu den Koalitionsverhandlungen gar nicht erst erschienen. Andere sitzen in kleinen Runden beieinander, lecken die Wunden oder üben sich in Schuldzuweisungen.

Das politische Berlin ist in Aufruhr. Eine mittelgradig wichtige Personalfrage hat die SPD erschüttert, die große Koalition in Frage gestellt, und überhaupt ist an diesem Abend nur noch sicher, dass nichts mehr sicher ist. Die ganze Absurdität bündelt sich in dem Moment, in dem Angela Merkel ihrem designierten Wirtschaftsminister Edmund Stoiber das Wort erteilt, von dem alle schon ahnen, dass er von seinem Amt zurücktreten wird, bevor er es überhaupt angetreten hat.

Wenn Münte lächelt

Franz Müntefering aber lässt sich nichts weiter anmerken. Nach seinem Statement spielt sein angekündigter Rücktritt keine Rolle mehr in den Verhandlungen. Müntefering gibt ein Amt auf, das er als "das schönste neben dem Papst" bezeichnet hatte; das er mit einer Arbeitswut ausfüllte, die ans Unmenschliche grenzte; das ihm so sehr auf den Leib geschneidert schien wie unter seinen Vorgängern zuletzt Willy Brandt. Aber jetzt und hier in den Verhandlungen mit der Union agiert er wie immer, erteilt das Wort, fragt nach, moderiert mit Merkel die Diskussion, wie Deutschland wieder auf die Beine kommen könne.

Wie selbiges mit der SPD geschehen soll, darum müssen sich nun bald andere kümmern. Die Partei hat Gerhard Schröder als Kanzler verloren. Nun verliert sie Franz Müntefering als Vorsitzenden. Was ihr bleibt, ist eine designierte Generalsekretärin, die am Tag darauf nicht ausschließen wird, auch auf ihr Amt zu verzichten. Binnen sechs Wochen seit der Bundestagswahl, nach der sich die SPD zum eigentlichen Wahlsieger aufpumpte, ist der Partei die Luft entwichen wie einem Ballon. Erschlafft und zerknittert liegt sie am Boden.

Nur ein paar Stunden liegt jener denkwürdige Auftritt zurück, bei dem Müntefering verkündet hat, dass er auf dem Parteitag in Karlsruhe nicht mehr als Vorsitzender der SPD kandidieren werde. Müntefering hatte gelächelt, bevor er im Angesicht der Statue seines Vorgängers Willy Brandt gesprochen hatte. 21 Sekunden lang gelächelt, bis die Fotografen ihre Bilder gemacht hatten. Das war ein Alarmzeichen. Am 22. Mai hatte Müntefering auch gelächelt, bevor er mitteilte, dass er und Gerhard Schröder Neuwahlen wollten. Wenn Müntefering lächelt, kann das ein Hinweis sein, dass es gleich nichts mehr zu lachen gibt. Nur war diesmal alles noch viel schlimmer.

"Ich werde nicht weglaufen", hat Müntefering gesagt und umständlich hinzugefügt: "Ich werde weiter in der Partei zur Verfügung stehen für die Dinge, die ich noch tun kann." Für Müntefering selbst waren dies vielleicht sogar zwei der wichtigsten Sätze. Natürlich erinnert man sich bei einem so plötzlichen Abschied auch an Oskar Lafontaine, der seinerzeit hinschmiss und auf und davon lief. Wie Lafontaine die Partei im Stich ließ, das hat Müntefering ihm nie verziehen. Wie der Vorgänger, schien Müntefering signalisieren zu wollen, werde er nicht handeln. Aber gehen wird er trotzdem.

Ein solches Ende hat viele Anfänge. Einer liegt 14 Tage zurück. Am Montag, den 17. Oktober, schreibt Der Spiegel, Kajo Wasserhövel solle als Staatssekretär mit Müntefering ins Arbeitsministerium wechseln. Es ist nur eine kleine Meldung, aber sie ärgert Müntefering. Er vermutet dahinter ein Komplott aus dem Lager von Andrea Nahles, die Generalsekretärin werden will.

Eine Intrige, mit der der potenzielle Konkurrent Wasserhövel aus dem Willy-Brandt-Haus entfernt werden soll. Der Parteichef reagiert harsch, dementiert die Nachricht im Präsidium, im Vorstand und in der Fraktion in klaren Worten: "Ich lasse den Kajo nicht wegloben." Erstmals ventiliert er im kleineren Kreis die Möglichkeit, den Posten des Generalsekretärs abzuschaffen. Dann bliebe Wasserhövel Bundesgeschäftsführer und als Statthalter Münteferings der alleinige starke Mann in der Parteizentrale.

Als diese Überlegung Mitte der Woche an die Öffentlichkeit kommt, gerät Müntefering in die Defensive. Eine Mehrzahl sozialdemokratischer Landesvorsitzender kündigt Widerstand an und spricht sich offen für Nahles als Generalsekretärin aus. Am Freitag reagiert Müntefering - und tritt die Flucht nach vorne an. Er telefoniert kurz mit Nahles und unterrichtet den Rest des SPD-Präsidiums per Fax über seinen Beschluss, Wasserhövel als Generalsekretär vorzuschlagen.

In einem Interview macht er sein Vorhaben öffentlich. Es ist eine einsame Entscheidung, wie sich in einer Telefonkonferenz des Präsidiums am Sonntagabend herausstellt. Aber Müntefering sieht sich im Recht, nicht nur weil der Generalsekretär das besondere Vertrauen des Parteichefs genießen muss, sondern auch, weil er nicht einsieht, warum alle anderen Spitzenleute der Partei öffentlich ihre Meinung verkünden und gleichzeitig von ihm Disziplin erwartet wird.

Einen Tag später sagt Nahles, sie "erwäge ernsthaft" eine Kampfkandidatur gegen Wasserhövel. Sie weiß, dass sie damit einen Tanz auf der Rasierklinge riskiert. Müntefering habe sie immer gefördert, wofür sie dankbar sei, sagt Nahles. Auch wenn sie Generalsekretärin werde, könne man weiter gut zusammen arbeiten. Doch hier irrt sie. Müntefering empfindet diese Worte offenbar als Verharmlosung eines brisanten politischen Vorgangs und als Anschmeiße einer Widersacherin. Am Dienstag sprechen die beiden unter vier Augen miteinander. Das Treffen endet ergebnislos.

Die Anspruchshaltung von Nahles gehe Müntefering gegen den Strich, war schon in den Tagen davor zu hören. Er selbst ist die Karriereleiter eher hoch gefallen als gestiegen. Franz Müntefering wurde stets gerufen, wenn Not am Mann war, weil wieder mal einem der politischen Enkel Willy Brandts die Macht wie Schmierseife aus den Händen glitt.

Er hat diese Rolle des Dieners perfektioniert und dabei geschickt überspielt, dass auch ihm persönlicher Ehrgeiz nicht fremd ist. Nahles hingegen verfolgte zielstrebig und wenig kaschiert ihren parteiinternen Aufstieg. Am heftigsten rieb sie sich immer wieder an Gerhard Schröder. Mehrmals in den vergangenen Jahren haben sich die beiden regelrecht angebrüllt. Das verschaffte ihr Respekt in der Partei und eine solide Machtbasis auf dem linken Flügel.

Absehbare Rebellion

Aber bislang kannte Nahles auch die rote Linie. Sie wusste sehr genau, wann sie sich zu fügen und eher zu integrieren als zu rebellieren hatte. Müntefering beauftragte sie im Sommer 2003 mit der Leitung einer Kommission, die ein Konzept für die Bürgerversicherung erarbeiten sollte. Nahles strich ihren geplanten Urlaub und machte sich an die Arbeit. Sie führte die Gruppe mit eiserner Hand; Papiere, die in den Sitzungen verteilt wurden, ließ sie am Ende wieder einsammeln. Es ist nahe liegend, dass Nahles diese Aufgabe als Chance empfand, sich für Höheres zu empfehlen.

Doch Müntefering blieb misstrauisch, wohl auch weil Nahles ihre Doppelrolle nicht ablegte. Im Frühjahr 2005 gehörte sie zu jenem Kreis linker SPD-Politiker, die vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen für den Fall eines weiteren Debakels vorsorglich Forderungen für einen politischen Kurswechsel formulierten. Diese absehbare Rebellion war mit ein Grund für Schröder und Müntefering, Neuwahlen anzustreben, eine Entscheidung, die Nahles kritisierte. Bei den Verhandlungen über das Wahlprogramm allerdings stand sie dann wieder fest an Münteferings Seite.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Parteichef dies alles als Sprunghaftigkeit wahrnahm, die es ihm nicht angeraten erscheinen ließ, Nahles in einer großen Koalition die Verantwortung für die Partei zu übertragen. Er bleibt bei Wasserhövel, auf den er sich hundertprozentig verlassen kann. Noch am Sonntagabend im Präsidium sagt Müntefering, für eine 35-Jährige sei es doch schon ganz ordentlich, im Parteipräsidium zu sitzen. Der designierte Fraktionschef Peter Struck bietet Nahles den Posten eines seiner Stellvertreter an. Doch jetzt stellt auch Nahles auf stur, und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Es beginnt die Zeit der versteckten Drohungen und der falschen Interpretationen. Müntefering sagt am Sonntagabend vor der Presse, es werde am nächsten Tag eine Kampfabstimmung geben. Der Sieger sei der Kandidat des Vorstands für den Parteitag und werde breite Unterstützung haben. Viele Vorstandsmitglieder verstehen dies so, dass Müntefering mit beiden Kandidaten leben könnte. Müntefering wird aber auch nach Konsequenzen für den Fall gefragt, dass Nahles die Abstimmung gewinnt. Der Parteichef bleibt vage.

Vorstandssitzung am Montag. Müntefering wiederholt mehrmals, die Entscheidung über den Generalsekretär sei ihm wichtig. Gerhard Schröder sagt, der Parteivorsitzende müsse den Generalsekretär bekommen, den er haben wolle. Auch Peter Struck, Hans Eichel und der bisherige Amtsinhaber Klaus Uwe Benneter warnen vor einer Beschädigung Münteferings. Doch die Mehrzahl der Redner spricht sich für Nahles aus. Wolfgang Jüttner, Landeschef in Niedersachsen, meint, eine Wahl von Nahles sei keine persönliche Niederlage für Müntefering, allenfalls "eine kleine Delle".

Andere, wie Matthias Platzeck, machen aus ihrem Magengrimmen kein Hehl. Sigmar Gabriel geht es ähnlich. Er steht bei Nahles im Wort, sie zu unterstützen, verdankt aber Müntefering seinen Job als künftiger Umweltminister. Gabriel feuert eine Breitseite auf Heidemarie Wieczorek-Zeul ab, die ihren Platz als stellvertretende Parteivorsitzende für Nahles frei machen solle, um den Konflikt beizulegen. Als Bundesminister habe man für ein solches Parteiamt sowieso keine Zeit mehr. Wieczorek-Zeul wehrt sich und erklärt, wenn sie sich zwischen Regierungs- und Parteiamt wählen müsse, würde sie sich für den Posten als Parteivize entscheiden. Einen Tag später wird sie ankündigen, auf genau diesen Posten zu verzichten.

In Schröders Schatten

Etwa 15 Vorstandsmitglieder melden sich zu Wort. Am Ergebnis der bevorstehenden Abstimmung kann es kaum noch Zweifel geben. "Ich habe gedacht, jetzt muss Münte doch die Notbremse ziehen", erinnert sich ein Teilnehmer. "Aber er hat das einfach so laufen lassen." Der Vorstand stimmt ab. Barbara Hendricks, Staatsekretärin im Finanzministerium, verkündet das Ergebnis. Nahles hat gewonnen, haushoch.

Müntefering beruft sofort eine Präsidiumssitzung ein, teilt seinen Entschluss mit, nicht mehr als Parteichef zu kandidieren. Ein paar Teilnehmer wollen ihn überreden, wenigstens noch einmal darüber zu schlafen. Doch der Parteichef ist nicht mehr umzustimmen. Er informiert den Vorstand, ruft Angela Merkel an und tritt schließlich vor die Presse.

Warum hat Müntefering die Notbremse nicht gezogen? Er hätte mit seinem Rücktritt drohen können, so wie es Gerhard Schröder x-mal gemacht hat, um seine Agenda 2010 durchzuboxen. Doch vielleicht war dieses Vorbild genau der Grund für Müntefering, nicht so zu handeln. Er wollte, dass die Partei zur Vernunft kommt, ohne eine Erpressung, die ihm als Parteichef auch nur geschadet und tagelang negative Schlagzeilen bewirkt hätte.

Doch genau das Verhalten, mit dem er sich von Schröder unterscheiden wollte, ist ihm jetzt zum Verhängnis geworden. "Wir haben das Problem, dass demokratische Gepflogenheiten in der SPD lange Zeit zu kurz gekommen sind", sagt ein führender Sozialdemokrat. "Und wenn man sie dann wieder zulässt, schlägt das eben auch mal in die andere Richtung aus."

Franz Müntefering hat sich selbst oft als Sturkopf bezeichnet. Die Partei müsse der Regierung dienen, war sein Credo, dem er alles unterordnete, manchmal auch eigene Bedenken. Müntefering verlangte von der SPD stets die selbe Loyalität, die er gegenüber Gerhard Schröder übte, was ihm auch nicht immer leicht gefallen ist. Doch zugleich muss er gemerkt haben, dass eine Partei sich auf die Dauer so nicht führen lässt. Nach seiner Wahl zum SPD-Chef bemühte er sich darum, der Basis wenigstens das Gefühl zu geben, sie werde auch gefragt. In gewisser Weise war der Parteichef hin- und hergerissen zwischen Härte und Nachgiebigkeit.

Müntefering geriet mehrfach ins Schlittern, zuletzt nach der Neuwahl-Entscheidung im Mai. Er stehe eben auch nicht über den Dingen, "ich bin mitten im Getümmel", hat er damals gesagt. Es war das Eingeständnis, dass auch seine Autorität Grenzen hat. Und das Eingeständnis, dass seine Sturheit bisweilen wohl nur ein Mittel war, die eigene Unsicherheit zu überspielen. Am Montag hat er die Probe aufs Exempel gemacht. Aber die Partei hat ihn nicht verstanden.

© SZ vom 2.11.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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