Mordfall Litwinenko:"Solche Menschen werden häufig ermordet"

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Der mysteriöse Tod des russischen Ex-Spions Litwinenko ruft immer neue halbseidene Figuren auf den Plan.

Wolfgang Koydl

Nick Pisa ist britischer Journalist, aber da seine Vorfahren aus Neapel stammen, glaubte er einen besonders guten Zugang zu Mario Scaramella zu haben, den er kürzlich interviewte. Der dubiose Italiener, der zunehmend in den Mittelpunkt des mysteriösen Todesfalles des russischen Ex-Spions Alexander Litwinenko in London rückt, kommt nach eigenen Angaben ebenfalls aus dieser süditalienischen Großstadt.

Mario Scaramella. (Foto: Foto: dpa)

Umso erstaunter registrierte Pisa einige Ungereimtheiten: Scaramella habe nicht den kleinsten Anklang eines neapolitanischen Akzentes; und er unterstreiche - untypisch für die Bewohner dieser Stadt - seine Rede so gut wie nie mit seinen Händen.

Ein Neapolitaner bei Pizza Hut?

Am unwahrscheinlichsten freilich bewertete der Brite die Bemerkung Scaramellas, er sei bei einem London-Besuch in einem Restaurant der US-Kette Pizza Hut eingekehrt. Neapolitaner, so Pisa, hätten die Pizza erfunden und würden dieses Gericht nicht einmal in einer anderen italienischen Stadt anrühren, geschweige denn bei Pizza Hut.

Italiener oder nicht - derzeit liegt der geheimnisvolle Signore Scaramella in einem Einzelzimmer im University College Hospital im Zentrum von London. Vor der Tür schieben zwei Bobbys Wache.

Sie sind zu seinem Schutz da, denn seitdem man in Scaramellas Körper ebenfalls Spuren des radioaktiven Isotops Polonium 210 entdeckt hat, das für den Tod Litvinenkos verantwortlich gemacht wird, gilt auch er als attentatsgefährdet. Der selbsternannte "Professore" zeigt zwar keine Symptome einer Strahlenerkrankung, aber vorsorglich hat er der Öffentlichkeit in Italien und in Großbritannien mitteilen lassen, dass die Dosis ausreiche, um ihn zu töten.

Scotland Yard jedenfalls vernimmt den Italiener derzeit nur als Zeugen und nicht als Verdächtigen. Litwinenko freilich hatte, wie mittlerweile bekannt wurde, am Ende seines Lebens Zweifel an der Zuverlässigkeit jenes Mannes, den er einst als Freund betrachtet hatte. Am 1. November, dem Tag, an dem Litwinenko wohl das Gift schluckte, traf er Scaramella in einer Sushi-Bar in Piccadilly.

Nur ein Glas Wasser

Es sei ihm merkwürdig vorgekommen, dass sein Partner das Essen verschmähte und mit einem Glas Wasser vorlieb nahm. Noch erstaunter war er, als ihm Scaramella die Dokumente überreichte, wegen derer er mit dem Billigflieger Easyjet nach London geflogen war. Es waren Ausdrucke von E-Mails, und Litwinenko fragte sich, warum er die nicht per Computer hätte schicken können.

Das Ensemble halbseidener Figuren in dem Spionagekrimi ist mittlerweile um einen neuen und nicht minder fragwürdigen Charakter bereichert worden: Jurij Schwez, in den achtziger Jahren KGB-Spion in Washington und einst Kontaktmann zu Scaramella, soll diese Woche von Beamten von Scotland Yard in der amerikanischen Hauptstadt befragt werden, wo er seit 1993 lebt.

"Ich glaube, ich habe eine Spur, die erklären kann, was geschehen ist", ließ Schwez wissen. Einzelheiten, so die Londoner Sonntagszeitung Observer, nannte er nicht. Sicher ist nur, dass Schwez - ebenso wie Litwinenko - einst für Boris Beresowskij arbeitete, jenen in London lebenden Multimillionär, der Russlands Präsident Wladimir Putin in inniger Feindschaft verbunden ist.

Worum es bei der von Schwez angedeuteten Spur gehen könnte, erfuhr der Observer von der in London studierenden Julia Swetlitschnaja. Sie erinnerte sich, dass Litwinenko sie an einem Erpressungsgeschäft beteiligen wollte.

Geldmangel bei Litwinenko?

"Er sagte mir, dass er alle möglichen mächtigen Leute, einschließlich Oligarchen, korrupte Beamte und andere Quellen im Kreml erpressen wollte, indem er drohte, heikle Informationen zu verkaufen", sagte die Studentin. 10.000 Pfund habe der chronisch unter Geldmangel leidende Litwinenko pro Erpressungsversuch kassieren wollen.

Nachzuweisen ist diese Behauptung freilich ebensowenig wie Berichte der Londoner Times, wonach der Ex-Spion in alle möglichen grauen Geschäfte mit Russen verstrickt gewesen sein soll. In seinen sechs Jahren in London habe sich Litwinenko auf diese Weise "eine beachtliche Sammlung von Freunden und Feinden zugelegt", schrieb die Zeitung.

Zu seinen Geschäftsinteressen hätten möglicherweise auch kriminelle Machenschaften wie Mädchenhandel und der Schmuggel mit radioaktiven Stoffen gehört, berichtete die Times unter Berufung auf eine ungenannte Quelle. "Menschen, die in Verbindung zu dieser Welt stehen, werden auf den Straßen russischer Städte häufig ermordet", konstatierte die Zeitung. "Doch bis jetzt ist diese Praxis noch nicht bis London vorgedrungen."

© SZ vom 4.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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