Mord an Patienten:Ein Mann mit vielen Gesichtern

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Der "Todespfleger von Sonthofen" galt als hilfsbereit und höflich, aber auch als eigensinnig - seine wahren Motive liegen im Dunkeln.

Von Dietrich Mittlerund Klaus Schlösser

Im Fragebogen seiner Abschlussklasse hatte Stephan L., den nun alle Welt als "Todespfleger der Klinik Sonthofen" kennt, sein kleines Glück definiert: "Heiraten, Familie und im Allgäu ein Haus". Nur wenige Kilometer vom Tatort entfernt entdeckte er zusammen mit seiner Freundin Daniela im Oberallgäuer Ferienort Gunzesried das Traumhaus: mit Feuerholz vor der Tür, Blick auf Tannen und Berggipfel.

Nichts unterschied L. auf der Suche nach einem ruhigen, bürgerlichen Leben von den anderen Dorfbewohnern. Die sind nun umso entsetzter, zu welchen Taten ihr Nachbar fähig war. Seit der Festnahme des 25-Jährigen, der die Tötung von zehn Patienten gestanden hat, ist die untere Wohnung im zweistöckigem Gebäude verwaist. StephanL. sitzt in Untersuchungshaft, die Polizei untersucht gerade bis zu 30 weitere Todesfälle in seiner Zeit in der Klinik. L.s Freundin rettete sich vor Kamerateams zu ihren Eltern.

Das Namensschild ist abgeschraubt

Ihr Vermieter - er lebt auch im Haus - hat das Namensschild des Paares abgeschraubt. Er will seine Ruhe haben. Diese Sehnsucht teilt er mit vielen Gunzesriedern. Natürlich hatten sich die 200 Bewohner für ihre Neubürger interessiert. Nach Feierabend war StephanL. mit seiner Freundin oft ins Gasthaus "Goldenes Kreuz" nebenan gegangen.

Das Paar wirkte "nett, hilfsbereit". L. war nicht um Kontakte bemüht, aber wenn er ins Gespräch kam, zeigte er sich offen und freundlich. Einmal stellte sich der Krankenpfleger bei einer Übung der Ortsfeuerwehr sogar als "verletztes Opfer" zur Verfügung.

Sonthofener Pflegekräfte beschreiben StephanL. ebenfalls als "hilfsbereit und höflich", aber auch als "introvertierten, wenig teamfähigen und eigensinnigen Einzelgänger", der offensichtlich mehrere Gesichter hatte. Gerade jene Kollegen, die Stephan L. auf die Spur kamen, martern sich inzwischen mit dem Gedanken, "was man noch hätte tun können, um das Töten früher zu beenden". Die Krankenhausleitung hat ihnen ein Kriseninterventionsteam zur Seite gestellt, um von den Schuldgefühlen loszukommen.

"Pflegen Sie so, wie sie selbst gepflegt werden wollen"

Stephan L. hatte bei seiner Bewerbung in Sonthofen gute Zeugnisse vorgelegt. Seine Ausbilderin an der Schule für Pflegeberufe im württembergischen Ludwigsburg hatte ihm und seinen Mitschülern nach bestandener Prüfung hehre Ziele ans Herz gelegt: "Pflegen Sie Ihre Patienten so, wie sie selbst gepflegt werden wollten. Sprechen Sie mit den Patienten und deren Angehörigen so, wie Sie erwarten, dass mit Ihnen gesprochen wird."

Stephan L. war ein intelligenter Schüler, der sich in der Freizeit auch viele Stunden lang mit Mobilfunk und Computern auseinander setzte und für eine Fachzeitschrift Sender ausfindig machte. Aber in der Berufspraxis mit bisweilen schwierigen Patienten stieß er offenbar immer wieder an seine Grenzen.

In der Boulevardpresse rütteln ehemalige Kollegen inzwischen am Bild des hilfsbereiten Pflegers, der seine Opfer nach eigener Aussage nur deshalb getötet haben will, weil er das Leid der kranken und dahinsiechenden Menschen nicht mehr ertragen konnte: "Wenn ein Patient zum Beispiel viel erbrach und damit Arbeit machte, konnte er sehr unangenehm werden." Nach bisheriger Erkenntnis der Polizei waren beileibe nicht alle Opfer des 25-Jährigen todkrank.

Die Ermittler wollen deshalb nicht ausschließen, dass Stephan L. eher aus Überlastung und aus Selbstmitleid tötete. Dieter Lochbihler aus Gunzesried, dessen Vater von StephanL. auf der Klinikstation versorgt wurde, erinnert sich: Der Pfleger habe von ihm wissen wollen, ob nicht bei Bosch eine Stelle im Sanitätsbereich frei wäre. "Es war zwar keine Stelle offen, aber ein paar Tage später hat er trotzdem eine Bewerbung vorbeigebracht. Im Nachhinein werte ich das als Hilferuf. Er wollte wohl unbedingt weg vom Krankenhaus."

© SZ vom 4.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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