Modellprojekt für junge Kriminelle:Jede Minute ist Gesetz

Lesezeit: 8 min

Harte Arbeit und die Wärme von Familien - wie das christliche Modellprojekt "Seehaus Leonberg" jungen Kriminellen hilft, die gerade noch auf der schiefen Bahn waren.

Julius Müller-Meiningen

Einer nach dem anderen schlurfen sie in den Brotzeitraum, direkt auf den Tisch vor dem mannshohen Holzkreuz an der Wand zu. Ihre Arbeitskleider sind übersät mit weißen Farbflecken, manche tragen Wandputz von der Baustelle im Haar. Die acht jungen Männer setzen sich an den Tisch.

Tobias Merckle, Mitte, Leiter des Jugendhofs Seehaus in Leonberg, bespricht sich mit vier der insgesamt acht jugendlichen Straftätern, die derzeit im Seehaus leben und dort ihre Jugendstrafen verbüßen. (Foto: Foto: AP)

Einer, er soll hier Michael heißen, nimmt etwas abseits auf einem dunklen Ledersofa hinter dem Ofen Platz. "Vater segne diese Speise, uns zur Kraft und Dir zum Preise!", murmeln die erschöpften Stimmen im Chor, dann knistern die Plastiktüten mit den belegten Brötchen und ein paar Paprika-Schnitze knacken zwischen Backenzähnen. Sie haben jetzt Hunger und sind müde. Das heißt, müde sind sie eigentlich den ganzen Tag.

Michael ist 18 Jahre alt, hat kurze Haare, ein schüchternes, aber freundliches, rundes Gesicht. Vor etwa einem Jahr hat er bei einer Schlägerei beinahe einen anderen Jungen umgebracht. Deswegen ist er hier, zu drei Jahren Haft hat ihn das Landgericht verurteilt. Auch die anderen sind nach Jugendstrafrecht verurteilte Straftäter. Sie haben Raubüberfälle begangen, Erpressungen, schwere Körperverletzungen.

Doch anstatt in der Justizvollzugsanstalt Adelsheim sitzen sie nun in diesem malerischen Fachwerkhaus in Leonberg bei Stuttgart. Keine Mauern, keine Zäune, keine Wachen, sondern ein herrschaftlicher, in Gelb getünchter und etwas baufälliger Hof aus dem 17. Jahrhundert.

Ringsherum liegen Wald und Wiesen, und in fünf Minuten ist man mit dem Auto in der Kleinstadt Leonberg. Jugendstrafvollzug in freien Formen nennt sich das, was hier in Baden-Württemberg seit Herbst 2003 ausprobiert wird. Für Michael bedeutet es, dass er, wenn er wollte, einfach aufstehen und hinausgehen könnte, um nicht mehr wiederzukehren. Niemand würde ihn daran hindern. Aber warum haut hier eigentlich keiner ab?

Retter der Kleinstadt-Optik

Wenn man Michael nach den Bildern aus der Münchner U-Bahn fragt, auf denen zwei Jugendliche zu sehen sind, die einen alten Mann brutal niedertreten, dann sagt er: "Das war gar nichts, ich habe mit Waffen zugeschlagen." Weil in Hessen und Niedersachsen gerade Wahlkampf ist, diskutiert sogar die Bundeskanzlerin über die Bilder aus München, über Menschen wie Michael und darüber, was mit ihnen zu tun sei.

Es gibt Leute, die schlagen die Anhebung der Jugendhöchststrafe von 10 auf 15 Jahre vor oder militärische Erziehungscamps, in denen man den Jugendlichen ihre Würde nimmt, um sie gefügig zu machen. Von Leonberg und Creglingen in Baden-Württemberg oder von Liepe in Brandenburg, Orten, an denen Jugendstrafvollzug in freien Formen versucht wird, ist eher selten die Rede.

Eine Insel nennen manche diesen Ort. Das trifft es wohl. Allerdings ist es eine Insel mit allerlei Verbindungen zum Land. Der Leonberger Bürgermeister war gerade da zu einer Besprechung, der Postbote kommt ins Haus,

Zivildienstleistende laufen über den Hof, Sozialpädagogik-Studentinnen gehen durch die Flure. Nicht selten ruft ein Handwerksmeister an, weil er einen Lehrling sucht und weiß, dass er hier einen disziplinierten jungen Mann finden kann. "Sie müssen besser sein als die anderen, denn sie haben ja etwas gutzumachen", sagt Tobias Merckle, 37, der Leiter des Seehauses Leonberg.

Das Wiedergutmachen, das immer nur ein Stück weit geht, wie Merckle weiß, funktioniert zum Beispiel so: Hat wieder ein Lümmel in Leonberg einen Brückenpfeiler besprüht, ruft die Gemeinde bei Merckle an, und kurze Zeit später rückt ein kleiner Seehaus-Trupp im weißen Transporter mit der Aufschrift "Grafitti-Feuerwehr" aus, der mit Hochdruck-Strahler die Kleinstadt-Optik wieder in Ordnung bringt.

Oder die jungen Straftäter renovieren einen Tunnel in der nahen KZ-Gedenkstätte, fällen Bäume für den benachbarten Kindergarten und säubern Teiche zusammen mit dem Naturschutzbund. Inzwischen kommt es schon mal vor, dass ein Nachbar anruft und fragt, ob nicht einer der Jugendlichen bei ihm den Rasen mähen kann. Als das Modellprojekt vor gut vier Jahren startete, legten sich die Anwohner noch Alarmanlagen für ihre Villen zu und starteten eine Unterschriftenaktion gegen die Initiative. Heute hat anscheinend keiner mehr Angst. Man hat sich an die Inselbewohner gewöhnt, und manchmal ist es sogar ganz praktisch, dass sie da sind.

Wer sich aber nicht so richtig an das Seehaus gewöhnen kann, das sind die Jugendlichen selbst. Sie sagen, für sie bedeutet der Aufenthalt ununterbrochenen Stress. Um das zu verstehen, lässt man sich am Besten vom Leiter Merckle eine Computertabelle zeigen, über der "Tagesablauf" geschrieben steht.

Ein ganz normaler Dienstag sieht zum Beispiel so aus: "5.40 Uhr Aufstehen, 5.45 Uhr Frühsport, 6.35 Uhr Zeit der Stille, 6.50 Uhr Frühstück, 7.15 Uhr Aufräumen/Putzen, 7.45 Uhr Musik-/Raucherpause, 8 Uhr Impuls für den Tag, 8.15 bis 12.45 Uhr Arbeit, Mittagessen, 13.45 Uhr Musik-/Raucherpause, 14 bis 17 Uhr Arbeit, 17.45 Uhr Hilfreiche Hinweise, Abendessen, 19 Uhr evtl. Nachrichten schauen, 19.15 Uhr Musik-/Raucherpause, 19.30 Uhr Hausaufgaben, 20 Uhr gemeinsamer Familienabend, 22 Uhr Bettruhe, 22.15 Uhr Licht aus."

Jede Minute ist hier Gesetz. "Einfach aufrappeln und weitermachen", sagt Michael. "Wenn man sich ändern will, schafft man's."

Fortsetzung nächste Seite: Wer pöbelt, wandert zurück in den Knast.

Wer zu spät kommt, muss sich um 17.45 Uhr, wenn "hilfreiche Hinweise" gegeben werden, verantworten. Montag bis Mittwoch wird gearbeitet, die Jugendlichen machen ein Berufsvorbereitungsjahr oder absolvieren das erste Lehrjahr etwa als Zimmermann, Dachdecker oder Fliesenleger. Donnerstag und Freitag ist Schule, sie können den Hauptschulabschluss nachholen.

Der 21-jährige Amos, links, bespricht mit seinem Ausbilder Martin Bugeling ein Werkstück in der Schreinerei des Jugendhofs Seehaus in Leonberg. (Foto: Foto: AP)

Wem der Leiter der JVA Adelsheim den Umzug nach Leonberg gestattet hat, der muss zweimal pro Woche in aller Herrgottsfrühe mit einer ehemaligen Marathonläuferin laufen und wird von Maurermeistern, Schreinern angeleitet und von ehrenamtlichen Lehrern unterrichtet. Insgesamt zwölf Mitarbeiter hat das Seehaus. Ständig und für alles werden Noten verteilt, wird gelobt und wird getadelt. Wer gute Noten erhält, bekommt Privilegien.

Zum Beispiel, sich alleine auf dem Hofgelände zu bewegen, länger zu telefonieren oder später einmal auf Heimaturlaub zu fahren. Wer sich hängenlässt, gegen die Regeln verstößt, pöbelt oder gar Gewalt anwendet, der wandert zurück ins Gefängnis. Wer vorsätzlich jemanden umgebracht, eine Sexualstraftat begangen hat oder drogenabhängig ist, darf erst gar nicht hierher kommen.

36 jugendliche Straftäter zwischen 14 und 21 Jahren waren seit der Eröffnung des Seehauses im Jahr 2003 da. Abgehauen ist niemand. 15 haben ihre durchschnittlich zwei Jahre währende Haftzeit in Leonberg beendet, etwa zehn gingen freiwillig ins Gefängnis zurück, weil es ihnen im Seehaus zu anstrengend war. Rückfällig geworden sind bisher nur zwei nach Abschluss ihrer Haftzeit in Leonberg. Im geschlossenen Jugendstrafvollzug liegt die Quote bei 80 Prozent.

Amus, auch er heißt eigentlich anders, hat durchgehalten. Um halb drei Uhr nachmittags fallen ihm an diesem Tag vor lauter Müdigkeit fast die Augen zu. Er ist schon ein ganzes Jahr im Seehaus. Amus kommt aus Äthiopien, hat den Status eines geduldeten Asylbewerbers, obwohl er seit seinem achten Lebensjahr in Deutschland lebt.

Er ist 21, war schon dreimal in Haft. "Diebstahl, Raub, Körperverletzungen, räuberische Erpressung", so fasst er seine Jugend zusammen. Er war drogenabhängig, hat fünf Therapien abgebrochen. Eigentlich ein hoffnungsloser Fall, dessen einzige Perspektive es war, sich nach der Haft der Fremdenlegion anzuschließen. Wenn Amus, dessen schwarze Afro-Locken steil zu Berge stehen, im Februar seine Strafe verbüßt hat, wird er ausziehen. Er will Altenpfleger werden.

Es sieht gut aus für ihn. Amus lacht viel, und man merkt, dass die Mitarbeiter ihn mögen. Als Eva, eine Studentin, vorbeikommt, fallen sich die beiden um den Hals. Amus sagt: "Wir sind eine richtige Gemeinschaft hier. Big Family." Genauer gesagt gibt es im Seehaus zwei große Familien. Im oberen Stockwerk des Verwaltungsgebäudes wohnen eine Sozialpädagogin und ein Bauingenieur in einer Wohngemeinschaft mit vier Jugendlichen und ihren eigenen zwei Kindern.

Unten wohnt das Ehepaar Hofmann in einer Sechser-WG. Jacqueline, 26, erwartet selbst bald ihr erstes Kind. Steffen arbeitet seit zweieinhalb Jahren als Schreiner im Seehaus. Nach dem ersten Jahr wurden neue "Mitarbeiter-Eltern" gesucht, und Steffen, 25, erzählt, er habe "Feuer gefangen übers Jahr". Dann haben er und seine Frau entschieden, hier zu leben. Von dem großen Wohnzimmer, in dem immer noch der Weihnachtsbaum steht, gehen die geräumigen Zimmer der Jugendlichen ab und die blank geputzte Küche. Und jenseits des Korridors haben die Hofmanns ihre zwei Zimmer. Jacqueline sagt, sie habe keine Angst. Abgesehen von ein paar Schreiereien ist bislang nichts passiert.

Die Idee ist es, den Jungs, wie Jacqueline sie nennt, die Werte und Geborgenheit eines heilen Familienlebens zu vermitteln. Aber warum entscheiden sich zwei junge Menschen, freiwillig mit jugendlichen Straftätern in einer Familie zusammenzuleben? Sie stehen gemeinsam auf, decken zusammen den Tisch, helfen in der Küche zusammen, spielen und reden an den gemeinsamen Familienabenden.

In einen Ordner tragen die Eltern den Jungs täglich Noten ein, und doch wachsen sie zusammen und müssen sich wieder loslassen, wenn einer der Bewohner seine Haftstrafe verbüßt hat. An nur einem Tag in der Woche und jedes zweite Wochenende haben die sogenannten Eltern frei. Jacqueline bekommt ein ganzes Gehalt, Steffen lässt sich nur für seine zeitweise Tätigkeit als Schreiner bezahlen. Aber wie halten die beiden das aus?

Fortsetzung nächste Seite: "Ich danke Ihnen für jeden Tag"

"Der Glaube hilft mir", sagt Jacqueline, und Steffen meint: "Die Grundmotivation kommt aus dem Glauben." Dann hält er inne, streift sich kurz über den Mund und sagt: "Das hier ist mehr als Arbeit. Es ist unser Leben."

Teil dieses Lebens ist nicht nur, dass Steffens Freunde ab und an zum Fußballspielen kommen oder die Eltern von Steffen und Jacqueline sie besuchen. Sonntags geht es in die Kirche. Die ganze Familie. Das gehört dazu, ebenso wie das Tischgebet oder der "Impuls für den Tag", an dem entweder ein Psalm oder ein erbaulicher Spruch verlesen wird, der die jugendlichen Straftäter durch den Tag begleiten soll.

"Ich nenn' mich nicht Christ", sagt Michael. "Ich bin ein normaler Mensch und möchte noch Spaß im Leben haben, auf legale Weise." Er nimmt den Kirchgang und das Beten hin, als Pflicht. Amus, der von seinem Onkel christlich erzogen wurde, sagt: "Manches verstehe ich nicht. Aber dann kann ich fragen, warum. Und dann sagen sie mir, wie sie die Dinge sehen." Prisma e.V., der Trägerverein des Seehauses, ist Mitglied der Diakonie.

"Alle Mitarbeiter müssen das Christ-Sein vorleben. Was die Jugendlichen damit persönlich machen, ist deren Sache. Wichtig ist nur, dass sie es akzeptieren", erklärt der Einrichtungsleiter Tobias Merckle. Ob sie es nervt oder nicht, sie akzeptieren es, glauben zu müssen oder wenigstens so zu tun. Alle, zurzeit sogar ein gläubiger Muslim unter den Jugendlichen. Es ist ihre einzige Chance.

Post aus dem Knast

Die Pause ist vorbei. Michael, Amus und die anderen gehen wieder an die Arbeit. Ein Flügel des alten Hauses muss renoviert werden, weil bald die nächste Wohngemeinschaft einzieht. Von Mai an können im Seehaus insgesamt 18, langfristig sogar 28 Jugendliche aufgenommen werden. Nachfrage herrscht genug.

Derweil sitzt nebenan, im Verwaltungsgebäude, ein älterer Herr vor einer Schultafel. Eberhard Bizer, der die Siebzig schon überschritten hat, sieht mit seinem hohen Schädel und seinem schlohweißen Haar aus wie eine Mischung aus Günther Oettinger und Richard von Weizsäcker. Er war Sonderschuldirektor, saß 14 Jahre im Kreistag für die CDU und hat, wie er sagt, beste Beziehungen in den Stuttgarter Landtag. Zweifellos ist Bizer ein konservativer Mensch, der als einen der Vorzüge des Seehauses nennt, dass er hier umgeben ist von einer "positiven Auslese an jungen, frommen Menschen, den Mitarbeitern".

Tobias Merckle hatte Herrn Bizer wegen seiner Erfahrung gebeten, die Leitung der Seehaus-Schule zu übernehmen. Nun halte ihn, der ja der Großvater der halben Mannschaft sein könnte, die Arbeit "jung und frisch", sagt Bizer. Dann zieht er eine kleine Karte aus seiner Aktentasche. Er sagt, ein "Alumni" habe sie geschickt, ein Ehemaliger. Er klappt das Kärtchen auf, auf der Innenseite, erste Zeile steht: "Adelsheim, 21.November 2007". "Das war so ein Kleiderschrank", sagt Bizer und breitet seine Arme weit aus, ein "schwerer Schläger". Die Karte stammt von einem der beiden Rückfälligen. Bizer hat ihn besucht in der JVA Adelsheim. In krakeliger, unbeholfener Schrift steht auf der Karte geschrieben: "Ich danke Ihnen für jeden Tag, an dem Sie mir Wissen, Disziplin und ebenso Freundschaft gaben! Dank Ihnen habe ich meine innere Mauer überwunden und so die Möglichkeit, neue Horizonte zu erreichen. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau ein langes, gesundes und gesegnetes Leben! Ihr, Sie schätzender Schüler K."

Bizer steckt die Karte aus dem Knast wieder ein. Es sei eine große Freude gewesen, den Mann wiederzutreffen, sagt er. Obwohl es leider am falschen Ort war.

© SZ vom 18.01.2008/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: