Ministerpräsident Platzeck:"Demokratie verliert gravierend an Zustimmung"

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Brandenburgs Landesvater beobachtet eine zunehmende Frustration in den neuen Ländern mit dem 1990 erkämpften System.

Die Proteste gegen Hartz IV sind nach Einschätzung des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) Ausdruck einer zunehmenden Frustration in Ostdeutschland. In den Demonstrationen manifestiere sich "ein Grundgefühl der Zweitklassigkeit", sagte Platzeck am Dienstag im Deutschlandfunk.

Dieses resultiere unter anderem aus der flächendeckenden Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern von um die 20 Prozent. Stimmungsmäßig rutschten die neuen Bundesländer raus aus Deutschland, warnte Platzeck. "Die Demokratie als Grundlage unserer Gesellschaftsordnung verliert - und zwar gravierend - an Zustimmung."

Am Montagabend waren etwa doppelt so viele Menschen auf die Straße gegangen wie in der Woche zuvor. Bundesweit zählte die Polizei mehr als 90 000 Demonstranten, die meisten davon in Ostdeutschland. Im Westen der Republik machten nur etwa 6000 Menschen ihrem Ärger Luft.

Sitzblockaden geplant

Die meisten Hartz-IV-Gegner kamen diesmal zu Kundgebungen in Leipzig, Berlin und Magdeburg. Vergangene Woche protestierten bundesweit etwa 40000 Menschen. Am kommenden Wochenende wollen nach Informationen der Süddeutschen Zeitung Attac und linke Gruppen beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung ihre Protestaktionen in das Wirtschaftsministerium selbst hinein verlagern. Dabei sind auch Sitzblockaden geplant.

Ungeachtet der Demonstrationen forderte die Wirtschaft Regierung und Opposition dazu auf, standhaft zu bleiben. "Jetzt müssen alle auch zu dieser Entscheidung stehen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbands BDI, Ludolf von Wartenberg, dem Handelsblatt.

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags Ludwig Georg Braun kritisierte, die Debatte der vergangenen Wochen habe die Menschen verunsichert. SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter forderte die Arbeitgeber dazu auf, sich stärker zu engagieren. "Die Regierung kann Rahmenbedingungen setzen, aber jetzt sind eigentlich die Arbeitgeber und Unternehmer gefragt, dass sie endlich diese Rahmenbedingungen nutzen und die Arbeitsplätze zur Verfügung stellen", sagte Benneter.

SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler verteidigte die Reform. Die geplanten Schritte seien der richtige Weg, um Langzeitarbeitslosen zu helfen. Der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen Ottmar Schreiner sieht in der Reform dagegen einen Flop. "Es fehlt ein Beschäftigungs- und Arbeitsmarktkonzept.

Bürgerrechtler: Keine Proteste gegen notwendige Reformen

Deshalb floppt Hartz IV", sagte Schreiner der Zeitung Die Welt. Schreiner kritisierte auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der seinen Kurs selbst um den Preis von Wahlniederlagen durchsetzen wolle.

Nach Ansicht von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) werfen die Proteste die Frage auf, ob Deutschland überhaupt noch reformfähig ist. "Wenn als Ergebnis der massenhaften Proteste auf der Straße dieses Gesetz aufgehoben würde, dann würde damit unser gesamtes demokratisches, durch das Grundgesetz festgeschriebenes System der Entscheidungsfindung in einer Demokratie in Frage gestellt", sagte er der Leipziger Volkszeitung.

Der frühere Bürgerrechtler Richard Schröder kritisierte einen Vergleich der Proteste gegen Hartz IV mit den Demonstrationen gegen das DDR-Regime. Im Herbst 1989 sei für nötige Reformen demonstriert worden, die jetzigen Aktionen richteten sich gegen notwendige Reformen, sagte er der Chemnitzer Freien Presse.

© SZ vom 18.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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