Meinungsfreiheit:Türkentum-Paragraf entschärft

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Hunderte kritische Autoren, darunter der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, wurden in der Vergangenheit wegen "Verunglimpfung des Türkentums" bestraft. Nun hat das Parlament den umstrittenen Paragrafen geändert.

Nach jahrelanger Kritik aus dem In- und Ausland hat die Türkei in der Nacht zum Mittwoch den berüchtigten "Türkentum"-Paragrafen 301 des Strafgesetzbuches geändert. Nach achtstündiger Debatte stimmten 250 Abgeordnete für die Revision des Gesetzes und 65 dagegen.

Die Türkei lockert den umstrittenen Paragrafen 301 zur Beleidigung des Türkentums. (Foto: Foto: AP)

In seiner bisherigen Fassung schränkte der Artikel nach Ansicht der Europäischen Union das Recht auf Meinungsfreiheit zu stark ein. Er stellte die Verunglimpfung sowohl des Türkentums als auch der Türkei unter Strafe. Hauptziel der Novelle ist es, Gerichtsverfahren wegen unliebsamer Meinungsäußerungen zu erschweren.

Künftig solle nur noch die Verunglimpfung der türkischen Nation und des türkischen Staates bestraft werden, aber nicht mehr die des Türkentums. Dieser vage Begriff wurde durch "türkische Nation" ersetzt. Für Verfahren ist zudem künftig eine Zustimmung des Justizministers nötig. Das Strafmaß wird von drei auf maximal zwei Jahre gesenkt. Generell gebe es aber auch weiter keinen Freifahrtschein, das Türkentum zu verunglimpfen, betonte Justizminister Mehmet Ali Sahin vor den Parlamentariern.

Schriftstellern geht die Änderung nicht weit genug

Der Artikel 301 war in der Türkei in der Vergangenheit genutzt worden, um Hunderte kritische Autoren wie den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wegen unliebsamen Äußerungen zu bestrafen. Schriftstellern und Bürgerrechtlern geht die nun verabschiedete Reform jedoch nicht weit genug. Sie befürchten, auch in Zukunft vor Gericht gestellt werden zu können, da der "Türkentum"-Paragraf nur geringfügig geändert worden sei. Zudem blieben andere Gesetze, die die Meinungs- und Pressefreiheit einschränkten, voll in Kraft.

Auch Rechtsexperten sind sich einig, dass das eigentliche Problem nicht so sehr in den Gesetzestexten liegt, sondern in der Mentalität von Richtern und Staatsanwälten. Die türkischen Juristen betrachteten Vorwürfe wie den einer "Beleidigung des Türkentums" weniger vom Blickwinkel des Individuums aus, sondern aus ihrer eigenen persönlichen Perspektive, sagte der türkische Europarichter Riza Türmen kürzlich. Und in dieser Perspektive erscheint der Staat durch Meinungsäußerungen in Gefahr.

EU und Bundesregierung begrüßten die Reform, mahnten jedoch weitere Schritte an. Der stellvertretende Außenamtssprecher Andreas Peschke sagte, nach dem Inkrafttreten der Änderung werde es schwieriger, neue Verfahren gegen Schriftsteller und Journalisten einzuleiten. Er erwarte durch die Änderung eine deutliche Stärkung der Meinungsfreiheit in der Türkei.

Die slowenische EU-Ratspräsidentschaft nannte die Reform des Strafrechtsparagrafen 301 am Mittwoch in Brüssel einen "konstruktiven Schritt nach vorne, um die Meinungsfreiheit zu sichern". Erweiterungskommissar Olli Rehn forderte Ankara zu noch weitergehenden Reformen auf. Brüssel erwarte nun von der Türkei "weitere Schritte", um eine "ungerechtfertigte Strafrechtsverfolgung" zu verhindern. Ziel müsse die "volle Meinungsfreiheit für türkische Bürger" sein.

In den Gesetzen von EU-Ländern gibt es ebenfalls Regelungen, die staatliche Institutionen vor Beleidigungen schützen sollen. Anders als in der Türkei wiegt das Recht auf freie Meinungsäußerung für die Gerichte in diesen Staaten aber so schwer, dass nur in wenigen Fällen eine kritische Meinungsäußerung als strafbare Handlung eingestuft wird.

Zwar gibt es Ausnahmen, etwa das Verbot der Leugnung des deutschen Völkermords an den Juden. Doch generell gilt in der EU das Prinzip, dass die Gesetze zur Meinungsfreiheit das Individuum schützen. In der Türkei dagegen schützt die Auslegung der Gesetze den Staat vor dem Bürger. Die Neufassung eines Gesetzes allein dürfte nicht ausreichen, um dies zu ändern.

© sueddeutsche.de/Reuters/dpa/AFP/mkf/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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