Meine Presseschau:Grabenkampf

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Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: Bernd Schifferdecker)

Seit Wochen beherrscht die Frage des Austritts aus der EU die Seiten der britischen Zeitungen. Fast jedes Blatt hat seine festgelegte Meinung zum Brexit, die Leser haben kaum noch eine Möglichkeit, sich sachlich zu informieren.

Ausgewählt von Christian Zaschke

Seit Wochen werden Zeitungsseiten im Vereinigten Königreich vom Referendum über die EU-Mitgliedschaft bestimmt, und selten war der Wille zu objektiver Berichterstattung dabei geringer. Fast jedes Blatt hat sich zum Sprachrohr eines der beiden Lager gemacht, was für die Leser bedeutet, dass sie zurzeit keiner Publikation wirklich trauen können. Als Ausnahme ist die Financial Times zu nennen, die zwar leicht pro-europäisch ist, sich aber um ausgewogene Berichterstattung bemüht. Der außenpolitische Chefkommentator Gideon Rachman merkt an: "Wie in den USA hat die Politik in Großbritannien eine populistische und unvorhergesehene Wendung genommen. Die Finanzkrise und deren Folgen haben das Vertrauen in die Eliten unterminiert. Hohe Einwanderungszahlen und die Angst vor Terrorismus haben die Versuchung erhöht, die Zugbrücke hochzuziehen und sich hinternationalen Grenzen zurückzuziehen."

Die Grundregel ist: Konservative Blätter sind für den Austritt , liberale dagegen. Der Daily Telegraph etwa wirbt mit Macht für den Austritt. Dabei kommt dem Blatt zupass, dass der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson eine wöchentliche Kolumne schreibt - Johnson ist der prominenteste EU-Gegner des Landes. Wann immer Experten aus der Wirtschaft oder ausländische Staatschefs vor den Folgen eines Austritts warnen, schießt das Blatt wütend zurück. Am Donnerstag hatten es die ehemaligen Premierminister John Major und Tony Blair gewagt, von einem Austritt abzuraten. Antwort des Telegraphs: "Die Wähler brauchen keine Belehrungen von früheren Premierministern."

Ebenfalls am Donnerstag fand eine große Fernsehdebatte zum Thema statt. Der Telegraph schrieb über die deutschstämmige Labour-Politikerin Gisela Stuart: "Sie war die effektivste Rednerin der EU-Gegner." Der Kommentator des Guardian schrieb über dieselbe Debatte: "Gisela Stuart war zurückhaltend bis zur Selbstauflösung, dass sie auch eine Debatte gegen sich selbst verloren hätte." Diese komplett konträre Ansicht mag damit zusammenhängen, dass der Guardian mehrheitlich pro-europäisch eingestellt ist. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt Wirtschaftschef Larry Elliott dar, der schrieb, die EU sei "wie die UdSSR, nur ohne Gulag".

Eher aus Versehen hat der Telegraph auch eine pro-europäische Stimme in seinen Reihen. Als der ehemalige Vorsitzende der Konservativen William Hague im vergangenen Jahr sein Mandat im Unterhaus niederlegte, verpflichtete das Blatt ihn als Kolumnisten. Nun muss es damit leben, dass Hague lauter EU-freundliche Texte schreibt. In dieser Woche: "Einer von mehreren Gründen, warum ich als Europaskeptiker für den Verbleib stimme, ist die Tatsache, dass die Gegner nicht wissen oder sich zumindest nicht darüber einig sind, was Großbritannien tun sollte, falls es wirklich austräte."

Mehr noch als den Telegraph schmerzen Hagues Einlassungen die Daily Mail , die so sehr zu einer donnernden Anti-EU-Maschine geworden ist, dass sie wirkt wie die Karikatur eines Boulevardblatts. Zu Hague schreibt sie: "Diese Zeitung ist zutiefst traurig darüber, dass William Hague offenbar alles verrät, wofür er gekämpft hat, um sich mit den Befürworten des Verbleibs und des Projekts Angst gemein zu machen." Ansonsten macht dem Blatt in Sachen Sexismus nicht einmal die berüchtigte Sun etwas vor. Dass bei der TV-Debatte vom Donnerstag fünf von sechs Diskutanten Frauen waren, bewog die Mail zu der Einschätzung: "Es gab ein gewisses Maß an hohen Stimmen, die einander widersprachen. Er war vielleicht ein bisschen wie eine Zankerei bei einem Netzball-Spiel, aber doch recht nett anzusehen."

© SZ vom 11.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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