Marokko:Aus dem Slum in den Dschihad

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Das weit verbreitete Elend in Marokko garantiert den Islamisten regen Zulauf. In den Slums der Großstädte rekrutieren Extremisten immer neue Gotteskämpfer.

Von Rudolph Chimelli

Paris - Der monarchische Glanz Marokkos und seine Anziehungskraft für Touristen hatten bis zu den Anschlägen in Casablanca vom Mai vergangenen Jahres verdeckt, dass sich in dem Land sozialer Sprengstoff sammelte. Fachleute hatten schon länger auf die Ausbreitung radikal-islamischer Strömungen in den riesigen Slums der Großstädte hingewiesen. Nach den Attentaten wurden laut offiziellen Angaben etwa 1500 Verdächtige aus dem Umfeld der Täter verhaftet. Nach anderen Quellen sollen es bis zu 6000 gewesen sein. Mehr als 700 von ihnen wurde der Prozess gemacht. Es gab über ein Dutzend Todesurteile und zahlreiche Haftstrafen bis zu lebenslänglich.

Der Prediger Mohammed Fisasi aus Tanger, der als Lehrer des Madrider Tatverdächtigen Dschamel Sugam bezeichnet wird, war zu 30 Jahren verurteilt worden. Er galt als örtliche Größe unter den Islamisten, aber nicht als Mittelpunkt einer umfassenden Organisation. Zersplitterte Strukturen sind typisch, denn die Geheimpolizei lässt den Islamisten wenig Spielraum. Die Gruppen geben sich Namen wie Salafijeh Dschihadijeh (etwa: Traditionalisten für den Glaubenskampf). Verbindungen zum Ausland ließen sich in den Prozessen nicht nachweisen, obwohl sich die Ankläger große Mühe gaben.

Über die Stärke der Dschihadis sind nur Vermutungen möglich. Deutlich ist hingegen, dass sie über ein schier unerschöpfliches Reservoir verfügen. So lebt in den Vorort-Slums der Metropole Casablanca ein erheblicher Teil der sieben Millionen Einwohner der Stadt. Die Mehrzahl ist jünger als 30 Jahre. Ihr Alltag wird von chronischer Arbeitslosigkeit, Elend und Analphabetentum bestimmt.

Geistiger Horizont primitiv, Terror-Material simpel

Kleine Gruppen junger Männer hatten sich im Viertel Sidi Moumen, von wo die Attentäter des Mai 2003 stammten, im Kampfsport und im gemeinsamen Gebet geübt. Ihr geistiger Horizont war primitiv, ihr Terror-Material simpel. Zu einem ausgeklügelten Vorgehen wie in Madrid wären sie nicht in der Lage gewesen. Ihre Genossen müssen in zehn Monaten sehr viel gelernt haben - oder sie sind völlig anderer Herkunft.

An den autoritären Herrschaftsmethoden im Königreich hat sich auch unter dem neuen König Mohammed VI. wenig geändert. Die materielle Lage des Volkes ist unverändert schlecht. Nicht einmal jeder Zweite kann lesen und schreiben. In einer UN-Liste, die den Entwicklungsstand nach Kriterien wie Schulbesuch, Gesundheitsfürsorge und Sozialprodukt misst, steht Marokko an 125. Stelle.

Die legale, gemäßigt islamistische "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" konnte die Zahl ihrer Parlaments-Mandate vor zwei Jahren von 14 auf 41 steigern. Sie ist damit die stärkste Oppositionsgruppe. Bei wahrhaft freien Wahlen hätte sie nach Meinung von Experten 70 Sitze erhalten. Eine zweite Gruppierung, die islamische "Bewegung für Gerechtigkeit und Wohlverhalten", ist nicht zugelassen, dürfte aber noch viel mehr Anhänger haben.

© SZ vom 27.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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