Manfred Kanther vor Gericht:"Unsere Grundmotivation war anständig"

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Das Landgericht Wiesbaden muss feststellen, ob die Transaktionen des einstigen Innenministers Manfred Kanther strafbar waren. Es geht um Pflicht, Untreue und viel Geld.

Von Detlef Esslinger

Wiesbaden, im Oktober - Keine Aussage könnte ihn mehr freuen als die folgende. Als Mensch kommt er bei diesem Zeugen zwar schlecht weg, wie ein Typ, mit dem man wenig zu tun haben will.

Aber das macht nichts. So begeistert ist Manfred Kanther, dass er für einen Augenblick sogar mit seinem Verteidiger spricht.

Es ist der sechste Verhandlungstag im Wiesbadener Landgericht. Auf dem Zeugenstuhl sitzt ein Mann, der vor Jahren die Aufgabe hatte, Kanther um Geld zu fragen. 1987 war das, kurz vor der Landtagswahl. Der Zeuge kam im Auftrag des Vorsitzenden Walter Wallmann zu Kanther, dem Generalsekretär der Partei in Wiesbaden, dem Herrn über die Ausgaben.

Wallmann wollte Geld für eine Umfrage haben. Für den Zeugen war es seine erste Begegnung mit dem Generalsekretär, und noch heute erinnert er sich an den "rauen Tonfall", den der sogleich anschlug. Das kann ja heiter werden, so fuhr es ihm durch den Kopf, aber er wehrte sich: "Ich bin nur der Bote, sagen Sie das dem Parteivorsitzenden."

Kanther grummelte und schimpfte weiter - nur, sein Benehmen ist unwichtig, im Nachhinein. Wichtig ist, dass der Zeuge sagt: "Die Umfrage wurde gemacht."

Was für ein Glück. Manfred Kanther kann gar nicht fassen, was da berichtet wird. Er selbst hatte ja keine Erinnerung mehr an diesen Vorgang, der ein wenig bedrohlich für ihn geworden war. Nun aber ist gewiss: Auch in diesem Fall hat er der Partei kein Geld vorenthalten! Er hört gar nicht mehr auf, den Kopf zu schütteln. Er strahlt. Er flüstert seinem Verteidiger etwas zu, zwei-, dreimal.

"Noch Fragen an den Zeugen?", fragt der Vorsitzende Richter. Nein, signalisiert Manfred Kanther mit einer Kopfbewegung.

Der DDR-Geprägte

Ein Prozess, der in mehrfacher Hinsicht Seltenheitswert hat, findet in diesem Saal statt. Das gibt es ja nicht so oft: Dass sich ein ehemaliger Bundesminister in einer Hauptverhandlung zu verantworten hat.

Manfred Kanther war Innenminister von 1993 bis 1998, der Hüter von Recht und Ordnung somit. Er steht vor Gericht wegen einer Tat, die er als Generalsekretär der CDU Hessen begangen hat; einer Tat, die er auch zugibt. Was die Richter beantworten müssen, ist, ob die Tat strafbar war.

Manfred Kanther beschloss vor 21 Jahren, im Dezember 1983, zusammen mit dem Schatzmeister des Landesverbands, Casimir Prinz zu Sayn-Wittgenstein, fast 21 Millionen Mark aus dem Vermögen der CDU heimlich in die Schweiz zu schaffen.

Dabei half ihnen ihr Wirtschaftsprüfer Horst Weyrauch. Weil dadurch der Landesvorstand keine Kontrolle über das Geld mehr gewinnen konnte, weil das Gremium über 17 Jahre hinweg, bis zur Offenlegung der Auslandskonten durch Kanther im Januar 2000, vermutlich Entscheidungen auf Grundlage der irrigen Annahme traf, die Finanzlage sei angespannt - deshalb hat die Staatsanwaltschaft Wiesbaden nun die Drei hierher gebracht.

Kanther und Prinz Wittgenstein sind der Untreue angeklagt, Weyrauch der Beihilfe dazu. Dass Manfred Kanther einmal als Angeklagter vor Gericht zu erscheinen hätte, in diesem Staat - eine Wendung ist das, die der heute 65-Jährige auf seinem Lebensweg kaum für möglich erachtet hätte.

Bestand denn nicht sein gesamtes Politikerleben darin, dass er für diesen Staat kämpfte? Der Angeklagte erzählt, warum er 1958 in die CDU eintrat: "Ich wollte mich jedweder sozialistisch getriebenen Politik entgegenstellen."

Er war in Thüringen aufgewachsen, in der DDR also - eine Erfahrung, die ihn fürs Leben geprägt hat. Auch im Gerichtssaal hat er für die DDR nur die Bezeichnung SBZ übrig, Sowjetische Besatzungszone; vom "linkswütigen Zeitgeist der Alt-68er" spricht er - wenn Kanther sein Wirken in den Siebziger- und Achtzigerjahren referiert, zeichnet er das Bild eines Kriegers, der bei jedem einzelnen Thema, ob Mitbestimmung, Radikalenerlass oder Schulpolitik, nichts weniger tat, als die Freiheit gegen den Sozialismus zu verteidigen.

"Wir haben aus einer anständigen Grundmotivation heraus gehandelt" - so fasst er zusammen, weshalb er die 21 Millionen in die Schweiz schaffen ließ. Hätte er das Geld in Deutschland belassen, damals, 1983, hätte er nach dem neuen Parteiengesetz dessen Herkunft offenbaren müssen. Das aber, sagt Kanther, hätte der CDU die Fähigkeit zur Kampagne genommen. Die Öffentlichkeit sei zu der Zeit gerade mit dem Flick-Parteispendenskandal "beschäftigt worden".

Folglich wären Namen von Spendern "zerpflückt worden", niemand wäre bereit gewesen, der CDU noch Geld zu geben. "Wir haben unsere Pflicht zur Schadensabwendung für wichtiger gehalten als die Befolgung des Gesetzes", sagt Manfred Kanther. Ein "Fehler", das gibt er heute zu. Aber Untreue?

"Haben Sie feststellen können, dass auch nur eine Mark an mich geflossen ist?", fragt er den Fahnder vom Landeskriminalamt. "Ist es richtig, dass die Ausgaben nie durch die Schatzmeisterei festgelegt wurden?", fragt er seinen Nachfolger als Generalsekretär, Franz Josef Jung.

"Habe ich je einen Wunsch mit der Bemerkung abgelehnt, es sei kein Geld mehr da?", fragt er einen Ex-Vorstandskollegen, den früheren Postminister Christian Schwarz-Schilling.

Das ist nun die nächste Besonderheit in diesem Verfahren, die auffälligste vermutlich. Die beiden Mitangeklagten haben sich Wahlverteidiger genommen, die zu den Begehrtesten ihres Fachs gehören. Manfred Kanther aber hat sich so lange geweigert, jemanden zu engagieren, dass ihm das Gericht einen Pflichtverteidiger zuweisen musste.

Am Landgericht herrscht Anwaltszwang. Nun sitzt neben ihm ein relativ junger Jurist namens Marcus Kratz, den man, hätte er seine Kanzlei auf dem Dorf und nicht in der Landeshauptstadt, einen Feld- und Wiesenanwalt nennen würde. Kratz ist in allen möglichen Rechtsgebieten unterwegs, überall ein bisschen.

Man kann nicht behaupten, dass er von Manfred Kanther geschnitten würde. Wenn der Anwalt, oft einige Minuten nach seinem Mandanten, den Saal betritt, begrüßt dieser ihn mit einem Klaps auf den Oberarm. Sie duzen einander. Aber eine Aufgabe hat der Anwalt nur insofern, als dass er physisch da sein muss. Nie schreitet er bei einer Befragung ein, nie sucht Kanther seinen Rat.

"Ich verteidige mich gegen den Ihrer Anklage innewohnenden politischen Vorwurf", sagt Kanther einmal, an die Staatsanwälte gerichtet. Dies meint er wörtlich, in jeder Hinsicht. Ein politisches Verfahren. Dafür braucht er, Beruf: Rechtsanwalt, keinen Verteidiger. Das schafft er selbst.

Und vielleicht klappt das ja sogar; er hat in seinem Leben schon ganz andere Gegner bewältigt als die beiden Männer, auf deren Schlagfertigkeit sich hier die Anklagebehörde verlassen muss.

Überaus schroff oder überaus zuvorkommend - ausschließlich in diesen beiden Varianten tritt dieser Angeklagte auf. Wolf Jördens und Achim Thoma, die Staatsanwälte, dürfen mit Freundlichkeit nie rechnen.

"Nennen Sie ein einziges Beispiel, dass ich dem Landesverband Geld mit der Begründung verweigert hätte, wir hätten keins mehr!" So herrscht er die Ankläger an, nachdem der einstige Mitarbeiter Wallmanns den Zeugenstuhl verlassen hat. Die vermeintlich abgelehnte Umfrage von 1987 schien ja lange Zeit der beste Beleg dafür zu sein, wie der Generalsekretär nach Gutdünken mit den Finanzen verfuhr.

"Sie hatten einen einzigen Punkt", sagt nun Kanther, den Zeigefinger in Richtung Staatsanwälte stoßend. "Und nun stellt sich heraus: Es ist nichts dran."

Den Richtern zeigt er sich von seiner liebenswürdigen Seite. "Wenn Sie gestatten, Herr Vorsitzender", "Falls Sie das interessiert, Herr Vorsitzender", das sind so die Wendungen, mit denen er Wortmeldungen einzuleiten pflegt.

Lange Zeit hatte Kanther ja durchaus Anlass, in dieser 6. Strafkammer quasi Verbündete zu sehen. Im März 2002 hatten die drei Berufsrichter unter dem Vorsitz von Rolf Vogel beschlossen, die Anklage nicht zuzulassen. Sie hielten die Untreue, falls es überhaupt eine war, für verjährt. Nur weil das Oberlandesgericht Frankfurt Anfang des Jahres einer Beschwerde der Ankläger dagegen stattgab, findet dieser Prozess überhaupt statt.

Aber jetzt zieht der Richter Vogel ihn durch. Er fragt so umfänglich, dass Staatsanwälte, Verteidiger und Kanther mit ihren eigenen Fragen anschließend schnell zu Ende sind. Und so bohrend, dass es zumindest zeitweise heikel für die Angeklagten wurde.

Die 21 Millionen Mark, die der Wirtschaftsprüfer Weyrauch Ende 1983 heimlich in die Schweiz brachte, stammten ja ihrerseits von heimlichen Konten, von so genannten Vorkonten der CDU bei der Metallbank. Allgemein wird unterstellt, dass das Geld von der Staatsbürgerlichen Vereinigung, einer illegalen Spendenwaschanlage, kam; Weyrauch sagt dazu: "Ich war so klug, nicht danach zu fragen."

Und fährt dann tatsächlich fort: Solange das Geld auf den Vorkonten lag, sei es "noch nicht im Herrschaftsbereich der CDU", sondern ihr nur "gewidmet" gewesen.

Wenn das so wäre, dann hätte dieser Wirtschaftsprüfer 17 Jahre lang einen Betrag als CDU-Geld angelegt und an die Partei ausgeschüttet, von dem er wusste, dass es kein CDU-Geld war. "Das ist doch nicht Ihr Ernst!", ruft Richter Vogel aus.

Weyrauchs Verteidiger Eberhard Kempf arbeitet daraufhin eine Erklärung aus, in der er die Aussage zurückzieht. Die Millionen seien Weyrauch als CDU-Vermögen vorgestellt worden. Dieser habe, 72 Jahre alt, bei der Aussage nicht die Konzentration gehabt. Prinz Wittgenstein, nochmals 15 Jahre älter, hat gleich zu Prozessbeginn erklären lassen, für Befragungen nicht zur Verfügung zu stehen.

Wozu wird der Prozess führen? Was werden die Staatsanwälte aus der Vorlage machen, die ihnen das Verfassungsgericht vor vier Wochen geliefert hat? 21 Millionen Euro muss die CDU nun zahlen, weil das Geheimvermögen des hessischen Landesverbands ein Verstoß gegen das Parteiengesetz war. Spätestens jetzt ist als Ergebnis der Transaktion damit jener Schaden eingetreten, den Kanther lange halbwegs bestreiten konnte.

Geld für Ulbrichts Erben

Die beiden Ankläger aber machen einen rätselhaften Eindruck. Sie, die diese Hauptverhandlung unbedingt wollten, sie sind an Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Walter Wallmann, der CDU-Spitzenkandidat von 1987 und spätere Ministerpräsident, war ja als Zeuge geladen, weil er früher einmal erzählt hatte: Hätte der Parteivorstand von dem Geld gewusst, hätte er in Wahlkämpfen ganz anders agiert.

Aber während nun Wallmann auf dem Zeugenstuhl sitzt, ist der Staatsanwalt Jördens damit beschäftigt, dessen alte Aussage in den Akten zu finden; die Stelle, mit der er ihn kriegen kann. So ist er nur halb bei der Sache, während er fragt.

Bei Wallmanns Mitarbeiter hingegen setzen die Ankläger nach - als es nichts mehr nachzusetzen gibt. "Hatten Sie denn den Eindruck, dass Herr Kanther aufs Geld achtete?", fragt der Oberstaatsanwalt Thoma den Mann - nachdem dieser soeben die Umfrage-Geschichte aus der Welt geschafft hatte. Sparsamkeit als Straftatbestand, sozusagen?

"Herr Thoma, das haben Sie doch nicht nötig!", ruft sofort Prinz Wittgensteins Verteidiger Wolf Schiller in den Saal. Alter Einschüchterungstrick. Aber sofort hält der Oberstaatsanwalt den Mund.

Nein, die Pointe in dieser Sache wird kaum das Urteil setzen, welches die Kammer gegen Ende des Jahres zu fällen hat. Die Pointe wurde bereits gesetzt, durch die Verfassungsrichter; wahrscheinlich ist sie kaum zu überbieten. Die 21 Millionen Euro, welche die CDU bezahlen muss, werden nach dem Gesetz unter den anderen Parteien aufgeteilt.

850000 Euro davon gehen an die PDS - die Erben von Ulbricht und Honecker bekommen also einen Teil des Geldes, das Manfred Kanther in seinem Kampf gegen den Sozialismus beiseite geschafft hat. "Das ist die traurige Wahrheit", formuliert der Zeuge Franz Josef Jung, der Nachfolger als Generalsekretär.

Man könnte auch sagen: die Höchststrafe.

© Süddeutsche Zeitung vom 13.10. 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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