London:Sicher ist nur die Angst

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Bärte sind verdächtig, Rucksäcke sowieso - wie sich London nach dem Terror durch die zerstörerische Kraft der Schockwellen verändert.

Von Alexander Menden

Auf der Kilburn High Road im Nordwesten Londons treibt ein blauer Lieferwagen eine Radfahrerin vor sich her, die langsam Richtung Süden strampelt. Die Frau hat einen Laptop-Rucksack auf den Rücken geschnallt; gehetzt blickt sie sich um, ihre Fingerknöchel stehen weiß hervor, so fest umklammert sie den Lenker. Der hupende Lieferwagen-Fahrer ist erst zufrieden, als sie auf den Bürgersteig ausweicht und er vorbeibrausen kann.

Ungeübte Radler wie diese Frau sieht man viele in diesen Tagen auf Londons Straßen. Die Umsätze der Fahrradläden haben sich während der vergangenen drei Wochen fast verdoppelt. Nun streben morgens Herren im Anzug und Damen im Kostüm auf nagelneuen City-Bikes und Rennrädern schlingernd dem Stadtzentrum zu. Im dichten Verkehr riskieren sie Kopf und Kragen. Doch dabei fühlen sie sich anscheinend immer noch sicherer als in den Bussen und U-Bahnen, die normalerweise täglich rund drei Millionen Pendler zu ihrem Arbeitsplatz bringen.

Die Stimmung in London ist gekippt, seitdem am 21.Juli weitere Anschläge auf das Nahverkehrssystem allein daran scheiterten, dass die Bomben nicht zündeten. Hatten die Menschen nach den Explosionen vom 7. Juli noch bewundernswerte Haltung gezeigt angesichts der Toten und Verletzten, entfalten die fehlgeschlagenen Attentate eine zermürbende Langzeitwirkung auf das Stadtleben.

Mit einem einzelnen Anschlag, wie zerstörerisch auch immer, konnte man leben. Viele hatten insgeheim geglaubt, er sei eine Art reinigendes Gewitter gewesen, ein lange befürchteter Schicksalsschlag, der die Spannung gelöst habe. Doch nun deutet sich eine ganze Anschlagsserie an, die zu einer psychischen Dauerbelastung werden könnte.

Der Polizeichef warnt

Die Metropolitan Police antwortet auf die allgemeine Verunsicherung mit einem massiven und deutlich sichtbaren Aufgebot an Beamten auf den Straßen und in den U-Bahn-Stationen. Nach dem katastrophal verlaufenen Einsatz in Stockwell, bei dem der unbeteiligte Brasilianer Jean Charles de Menezes erschossen worden war, vermeldet die Polizei nun auch erste Erfolge: zunächst am Mittwoch in Birmingham die Verhaftung von Yasin Hassan Omar, der im dringenden Verdacht steht, einer der vier Männer zu sein, die nach den missglückten Anschlägen fliehen konnten. Am selben Abend noch wurden in Stockwell drei Frauen verhaftet, am Donnerstag setzten Spezialkommandos im Süd-Londoner Tooting neun Männer fest.

Doch die Verhaftungen haben das Unbehagen nicht zerstreut, und auch die Aussagen des Londoner Polizeichefs Sir Ian Blair sind nicht dazu angetan, Ruhe in die angespannte Lage zu bringen: "Das Misslingen der Anschläge vom 21.Juli", sagt er, "bedeutet nicht, dass die Terroristen in ihren Möglichkeiten oder in ihrer Entschlossenheit geschwächt sind."

Wo immer es geht, meiden die Menschen öffentliche Verkehrsmittel und steigen um auf den eigenen Wagen oder das Fahrrad.

Doch die Autolawinen und Radlerhorden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich insgesamt viel weniger Menschen als sonst im Herzen der City of London bewegen. Selbst auf der Regent Street, in der man sich früher zuweilen wie ein Ertrinkender in einem Meer von Touristen fühlen konnte, ist jetzt reichlich Platz auf den Trottoirs.

Viele Urlauber haben ihre London-Reise abgekürzt oder gar nicht erst angetreten. Die Interessengemeinschaft "New West End Company", die 600 Einzelhändler in Regent Street, Oxford Street und Bond Street vertritt, rechnet mit bis zu 17 Prozent Umsatzeinbußen. Die Hälfte ihrer Kunden kommt von außerhalb. Jetzt bleiben sie weg.

Ekelhaftes Gefühl

Ein noch wichtigerer Maßstab für die Wirkung der Terror-Taktik ist allerdings das Alltags-Verhalten der Londoner selbst. Wer sich nicht von der Routine abbringen lassen will und weiterhin die U-Bahn nimmt, erlebt eine veränderte Atmosphäre in den Zügen. Aus den raschen Blicken, mit denen die wenigen Passagiere sich mustern, spricht Unsicherheit. Man spürt das Misstrauen am eigenen Leib, sobald man die tube betritt. Männer mit Rucksack sieht man sich etwas genauer an, sucht nach verdächtigen Merkmalen, doch wie könnten die aussehen? Bart? Flackernder Blick? Und nestelt der da nicht schon ein bisschen zu lange an seiner Plastiktüte herum?

Es ist ein ekelhaftes Gefühl, dieses Misstrauen, wie ein übler Geruch durchzieht es die U-Bahn-Waggons. Und es bietet den Nährboden für eine der bedrückendsten Entwicklungen seit den Anschlägen vom 7. Juli. In den vergangenen drei Wochen haben Angriffe auf Londoner Muslime drastisch zugenommen. Neun Moscheen wurden bisher beschädigt, eine Garage wurde in Brand gesteckt, Menschen werden auf der Straße attackiert.

Die Selbstschutzvereinigung "Muslim Saftey Forum" warnt bereits, dass sich die Muslimische Gemeinschaft nicht in eine "Opferrolle" drängen lassen werde. "Die Menschen werden sich wehren", kündigt ein Sprecher an. London läuft Gefahr, in einen Gewalt-Kreislauf einzutreten, der sich auch ohne weitere Terroranschläge fortsetzen könnte.

© SZ vom 29.07.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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