London nach den Anschlägen:Verschollen in der verwundeten Stadt

Lesezeit: 3 min

Fast eine Woche nach den Terroranschlägen suchen noch immer viele Londoner verzweifelt nach ihren vermissten Angehörigen. Die gemeinsame Sorge und Trauer schweißt Briten unterschiedlichster Herkunft zusammen.

Von Gerd Zitzelsberger

"Hat jemand Miriam Hyman gesehen?" Ein Schreibmaschinenblatt mit ihrem Foto und drei Telefonnummern klebt am Londoner Bahnhof King's Cross. Gleich daneben hängt das Foto von Neetu Jain und das des 22-jährigen Friseurs Phil Beer, das der polnischen EDV-Sachbearbeiterin Karoline Gluck, der türkischen Studentin Gamze Gunoral, des Bankers James Mayes und Fotos von ein paar anderen mehr.

Über den Bildern steht immer die gleiche Frage: Habt ihr ihn, habt ihr sie gesehen?

Ströme von Menschen fließen jeden Tag an den Zetteln vorbei, obwohl die U-Bahn-Station von King's Cross noch halb geschlossen ist: Ein paar hundert Meter von hier, 22 Meter tief unter der Erde, ereignete sich am Donnerstag die schlimmste der vier Bombenexplosionen. Ob es eine größere Bombe war, als die im Bus am Tavistock Square oder in den anderen U-Bahn-Linien, weiß noch niemand.

Spurlos verschwunden

Aber der Tunnel ist dort ganz eng: Jede Fahrtrichtung hat ihre eigene Röhre, und zwischen Wagendach und Tunneldecke liegen teilweise nur 15 Zentimeter. Deshalb wirkte der Explosionsdruck in der Piccadilly Line noch gewaltiger, und deshalb war dort die Rettung noch schwieriger als in den anderen Linien. 21 der bislang 52 geborgenen Opfer starben bei King's Cross. Und ein paar Leichen, vermutet die Polizei, dürften noch immer unter den Wagen liegen.

Miriam Hyman gehört sicher nicht zu den Toten, die noch unten im Schacht sind. Sie saß in einer anderen U-Bahn, als das Attentat geschah. Selbst das Kontrollzentrum der U-Bahn wusste 20 Minuten lang nicht, was geschehen war. Es glaubte zunächst an einen Stromausfall und Unfälle, die nur zufällig gleichzeitig passierten.

Erst 25 Minuten später kam die Anweisung, alle Züge zu evakuieren. Miriam Hymans Zug war da gerade in King's Cross. Als die 33-Jährige oben war, setzte sie sich vor dem Bahnhof auf den Bürgersteig und rief ihren Vater an: Er solle sich keine Sorgen machen, sie sei okay und versuche jetzt, auf anderem Wege zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen, der noch sieben Kilometer entfernt lag. Seitdem fehlt jede Spur von Miriam Hyman.

Am wahrscheinlichsten ist, dass die Überreste der jungen Frau jetzt zehn Fußminuten entfernt am Tavistock Square liegen: Dort steht, abgeschirmt durch eine haushohe Plane, der Doppeldecker, in dem die vierte Bombe explodiert ist. Vermutlich ist Hyman ausgerechnet in diesen Bus gestiegen, nachdem per U-Bahn kein Weiterkommen war.

Geklärt aber ist das Schicksal der jungen Frau, die von einer Model-Karriere träumte, noch nicht: Viele Opfer sind bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, und die Polizei hält manche Information zurück. Bis Dienstagnachmittag hatte sie erst fünf Tote offiziell identifiziert; Miriam Hyman ist nicht darunter.

1, 7 Millionen Spendengeldern

Manche Passanten, die einen Blick auf ihr Bild werfen, biegen nicht gleich in den Bahnhof ein: dahinter, in einer Ecke, ist eine provisorische Gedenkstätte entstanden. Entlang beider Mauern und rund um eine Buche liegen unzählige Blumensträuße. Manchmal steckt eine Trauerkarte oder ein Brief zwischen den Blüten.

An der Wand hängen ein paar Fahnen, die israelische und die palästinensische nur einen Meter auseinander. Woher wir auch kommen und welcher Religion wir auch angehören, so sollen die Fahnen zeigen, wir trauern mit den Hinterbliebenen. Viele belassen es nicht bei Symbolik: In einen Spendenfonds sind bereits gut 1,7 Millionen Euro von Firmen und Privatleuten geflossen.

Das offizielle London beschwört die Unbeugsamkeit gegenüber Terroristen: "Die Stadt wird überdauern", schrieb Bürgermeister Ken Livingstone als ersten Satz in das Kondolenzbuch. Lord Coe, Chef des Vorbereitungsteams für die Olympischen Spiele 2012, sekundierte: "London kann nur stärker werden." Und der Evening Standard beschwört den "stählernen Widerstandsgeist" der Pendler in Bahnen und Bussen.

Die Menschen, die bis tief in die Nacht schweigsam zu der Buche neben King's Cross gehen, dort Sträuße ablegen oder wortlos zwei, drei Minuten verharren, haben andere Gedanken: Wird man die Täter und vor allem ihre Hintermänner je finden?

"Es hätte jeden erwischen können"

Und selbst wenn man sie ausfindig macht, wird damit die U-Bahn sicher? Am Dienstagnachmittag jedenfalls gibt die Polizei bekannt, vier der Toten seien als Täter verdächtig, und in Leeds gab es eine Verhaftung.

"Es hätte jeden von uns erwischen können, und es kann morgen wieder passieren, vielleicht sogar noch schlimmer", murmelt einer beim Weggehen an King's Cross. "Ich habe hier Arbeit gefunden, ein Zuhause und einen Platz zum Beten", hat der Muslim Jeddar auf die Karte geschrieben, die er zwischen seine Blumen gesteckt hat.

© SZ vom 13.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: