Die Letten nennen ihn eigentlich Eiro, nicht Euro. Im Lettischen spricht man nämlich üblicherweise auch von Eiropa oder Eiropas Savienība, der Europäischen Union. Auf den neuen Münzen aber, die die Bewohner des baltischen Staates seit drei Wochen probeweise gegen ihren geliebten Lats eintauschen können, ist der Wert in Euro angegeben - nach den orthografischen Regeln Rest-Europas. Immerhin sind auf der Rückseite vertraute Symbole zu sehen, das lettische Staatswappen beziehungsweise eine nationale Identifikationsfigur namens Milda. Die junge Dame in Landestracht steht für das Streben nach Freiheit, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.
Diese Werte rangieren in der kleinen baltischen Nation aus historischer Erfahrung immer obenan, wenn eine neue Ära beginnt, also jetzt auch zur Einführung des Euro. Als 18. Mitglied tritt Lettland am 1. Januar der europäischen Währungszone bei, und aus mehreren Gründen ist es dort besonders herzlich willkommen. Erstens wird dieser Schritt in diesen Zeiten der Euro-Krise als "Vertrauensbeweis für die gemeinsame Währung" betrachtet, so formulierte es der neue Staatsminister im Berliner Auswärtigen Amt, Michael Roth, vor ein paar Tagen beim Besuch in Riga. Zum Zweiten genießt die lettische Regierung allerhöchsten Respekt dafür, wie sie mit äußerster Anstrengung die Bedingungen für den Beitritt erfüllt hat.
Drakonische Sparmaßnahmen retten das Land
Das Land war nämlich 2008 nach der Pleite der Lehman-Bank von der schweren Weltwirtschafts- und Finanzkrise besonders hart betroffen. Binnen weniger Wochen ging die Wirtschaftstätigkeit um 17 Prozent zurück. Nur noch Kredite der EU und des Internationalen Währungsfonds konnten den Staatsbankrott vermeiden. Der konservativ-liberale Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, der damals an die Regierung kam, ergriff drakonische Sparmaßnahmen, das Parlament zog mit. Die Einkommen im öffentlichen Dienst sowie die Renten wurden stark gekürzt und viele Beamtenstellen gestrichen, die Arbeitslosenrate schnellte hoch.
Für die Bürger waren es enorme Zumutungen. Sie zählen ohnehin mit den Bulgaren und Rumänen zu den ärmsten in der EU, das Durchschnittseinkommen liegt bei knapp 700 Euro im Monat. Viele, vor allem Rentner, haben noch weit weniger zur Verfügung, viele kommen ohne Zweitjob oder ohne Unterstützung von Verwandten nicht über die Runden. Umso bemerkenswerter war es, dass Premier Dombrovskis zweimal wiedergewählt wurde.
Immerhin hatte ja seine Remedur Erfolg. Die Wirtschaft sprang wieder an, 2012 lag Lettland mit einem Wachstum von 5,6 Prozent an der Spitze in der EU. Rekordwerte um vier Prozent werden auch für zwei weitere Jahre prognostiziert, wenngleich es wohl eine Weile dauert, bis das Niveau von 2007 wieder erreicht ist. Die Rating-Agenturen Moody's und Standard & Poor's hoben die Daumen. In vieler Hinsicht könnten sich andere EU-Länder an Lettland ein Beispiel nehmen. Der Anteil der Verschuldung am Bruttosozialprodukt liegt 2013 bei 42 Prozent. In Deutschland ist er fast doppelt, in Italien dreimal und in Griechenland viermal so hoch. Auch das Maastrichter Defizit-Kriterium von maximal drei Prozent hat Lettland im Haushalt 2013 mit 1,3 Prozent klar unterboten.
Solcher Eifer ist wie so vieles in Lettland nur erklärlich aus den traumatischen Erfahrungen der Unterdrückung im russischen Zarenreich und in der späteren Sowjetunion. Nach dem Umsturz von 1989 sowie dem Beitritt zu EU und Nato 2004 ist nun die Einführung des Euro "eine weitere Versicherung gegen die Risiken, die unsere doch sehr schwankenden Beziehungen zu Russland mit sich bringen", erklärte unlängst Außenminister Edgars Rinkēvičs. "Das Wichtigste ist, zu einer europäischen Struktur zu gehören, die unsere Sicherheit garantiert", sagt auch Professor Ivars Ījabs, Politologe an der Universität in Riga. "Der lange Schatten Russlands ist der wichtigste Faktor in der lettischen Politik."
Weil sie ihre Eigenständigkeit so lieben, fällt freilich den Letten gleichzeitig der Abschied vom Lats recht schwer, denn der war ja auch ein Symbol dieser Eigenständigkeit. Er wurde erstmals nach der Unabhängigkeit von 1918 eingeführt, im Zweiten Weltkrieg und im Sowjetsystem dagegen unterdrückt. 1993 kehrte er zurück. Nur zwanzig Jahre konnten sich die Letten der jungen und mittleren Generation also einer eigenen Währung erfreuen, man sagt deshalb Adieu nicht ohne Melancholie. "Das ist unser Geld, nicht anderer Leute Geld", meint zum Beispiel die 21-jährige Liga Petrovska, die auf dem malerischen Zentralmarkt von Riga Süßigkeiten verkauft. "Der Lats ist unsere nationale Währung, und das war sehr gut", pflichtet ihr eine Nachbarin bei. "Wir wissen nicht, was kommt."
Die Skepsis wird bestätigt in Umfragen, in denen nur ein Drittel der Beteiligten zum Euro wirklich Ja sagt. Die Unternehmen hingegen, vor allem ausländische Investoren, sind "ziemlich einhellig dafür", berichtet Maren Diale-Schellschmidt, geschäftsführender Vorstand der Deutsch-Baltischen Handelskammer. "Es ist vor allem ein psychologisches Signal nach außen." Tränen werden wohl zur Jahreswende nicht fließen, in der Silvesternacht ist vielmehr in Riga ein großes Feuerwerk geplant. Die neuen Euro-Münzen mit Mildas Konterfei, die übrigens die Staatliche Prägeanstalt in Stuttgart produziert hat, wurden ebenso wie die Banknoten bereits in den vergangenen Wochen an Banken und Firmen verteilt.
Im Internet kursiert seit geraumer Zeit ein Abschiedsliedchen, das die Stimmung wiedergibt: "Danke, kleiner Lats."